Predigt zum Sonntag Jubilate

Dortmund, Liverpool und Siegestaumel.

Von Pastor René Enzenauer

Wer glaubt, dass Jesus der Christus ist, der ist von Gott geboren; und wer den liebt, der ihn geboren hat, der liebt auch den, der von ihm geboren ist. Daran erkennen wir, dass wir Gottes Kinder lieben, wenn wir Gott lieben und seine Gebote halten. Denn das ist die Liebe zu Gott, dass wir seine Gebote halten; und seine Gebote sind nicht schwer. Denn alles, was von Gott geboren ist, überwindet die Welt; und unser Glaube ist der Sieg, der die Welt überwunden hat. (1. Johannes 5,1-4)

  1. „Es gibt Leute, die denken, Fußball sei eine Frage von Leben und Tod. Ich mag diese Einstellung nicht. Ich kann Ihnen versichern, dass es noch sehr viel ernster ist.“ Diese Sätze stammen von William „Bill“ Shankly. Natürlich war er Fußballer. Und von 1959-74 war er Trainer vom FC Liverpool. Und zwar ein sehr erfolgreicher und immer noch sehr verehrter. So verehrt, dass man nach seinem Tod eine Bronzestatue für ihn aufstellte.

Wahrscheinlich hätte sich Bill Shankly sehr gefreut, wenn er vor vier Jahren dabei gewesen wäre, im berühmten Stadion in der Anfield Road in Liverpool. Dort spielte der FC Liverpool gegen Borussia Dortmund. Dortmund führte fast schon siegessicher mit 3:1. Aber dann passiert das, was die Medien ein wenig numinos die „Magie von Anfield“ nennen. Aus dem 3:1 wird erst ein 3:2 und dann ein 3:3. Und dann ist das Spiel eigentlich zu Ende. Die 90. Minute. Aber ausgerechnet da kommt sie, die Flanke, dann ein Kopfball und dann das 3:4 – für Liverpool. Das wars dann für Dortmund. Jemand ruft so oder so ähnlich: „Das Spiel ist Aus! Aus! Aus!“ und die Fans von Liverpool eskalieren. Arme fliegen in die Luft oder um den Hals des Nachbarn. Freudensprünge, Freudentaumel. Freudentränen. Echte Fanfreude, die von Herzen kommt. Der Gegner ist besiegt. In der letzten Minute.

Über diesen fast schon religiösen Moment hat die alte London Times geschrieben: „Es gibt Augenblicke im Leben, die immer im Gedächtnis der Menschen bleiben. Erinnerungen, die sie lächeln und glauben lassen.“ Wohin das feuchte Auge auch blickt: Jubel. Jubel. Jubel.

  1. Heute ist nun Jubilate, wie der Name schon sagt: ein Sonntag, der für das Jubeln gemacht ist. Wenn wir dem Predigttext folgen, dann geht es auch heute um den Jubel über einen Sieg: Unser Glaube ist der Sieg, der die Welt überwunden hat. So heißt es im 1. Johannesbrief. Wörtlich übersetzt, müsste man eigentlich noch deutlicher sagen: „Unser Glaube ist der Sieg, der die Welt besiegt hat.“

Auch dieser Sieg, von dem der 1. Johannesbrief spricht, ist – ähnlich wie beim Fußball – ein Mannschaftssieg. Das Band, das die Mitglieder dieser Mannschaft vereint und was sie zu einer „Gemeinde“ macht, ist der Glaube daran, dass Jesus der Christus ist: Wer glaubt, dass Jesus der Christus ist, der ist von Gott geboren.

Das klingt nach Taufe, nach einem neu von Gott geborenen Menschen, der in und durch seinen Glauben lebt, der in der Gemeinschaft mit Gott lebt. Aus dieser Gemeinschaft mit Gott, aus dieser neuen Geburt, wächst nun etwas, was grundlegend für den Zusammenhalt der Mannschaftsmitglieder ist. Wer aus Gott lebt, der liebt. Er liebt Gott. Und er liebt auch alle anderen, die auch aus Gott geboren sind, alle anderen, die auch glauben, dass Jesus der Christus ist: Wer den liebt, der ihn geboren hat, der liebt auch den, der von ihm geboren ist. Das heißt nichts anderes als: Wer Gott liebt, der liebt auch seine Glaubensgeschwister. Mannschaftsfeeling. Vereint in Glaube und Liebe, wie Familienbande.

  1. Dieses Bild, das der 1. Johannesbrief von seiner Gemeinde zeichnet, sieht ganz und gar harmonisch aus. Es ist das Ideal einer Gemeinde, in der alles zum Besten steht, in der die Beziehungen intakt sind, die zu Gott und die zu den Glaubensgeschwistern. Es ist das Ideal einer Gemeinde, in der es eine echte Gemeinschaft und Zusammenhalt gibt.

Aber wie so oft sieht es hinter den Kulissen immer etwas anders aus. Das ist auch beim 1. Johannes so. Dieser Brief richtet sich nämlich an eine Gemeinde, die tief zerstritten war, um nicht zu sagen: Sie war gespalten. Es ging dabei um grundlegende Glaubensdinge. Zwei Parteien standen sich gegenüber. Beide hätten von sich behauptet, sie seien Christen, und doch waren sie ganz und gar unversöhnlich. Denn eine Frage stand zwischen ihnen. Es gab grundverschiedene Ansichten darüber, wie es zu verstehen ist, dass Jesus der Sohn Gottes ist. Die einen stellten sich das so vor, die anderen anders. Man stritt sich. Man schrieb gegeneinander an. In den drei Johannesbriefen spiegelt sich diese Auseinandersetzung wider. Es gab Kränkungen. Es gab Enttäuschungen. Und dann passierte das, was in solchen Fällen immer passiert. Die Gemeinde blutete aus. Nach und nach gingen immer mehr Menschen. Früher hatten sie einmal zusammen Gottesdienst gefeiert. Aber jetzt wollte man nichts mehr miteinander zu tun haben. Weil man anders dachte. Weil man anders glaubte. Weil man anders lebte. Die Gemeinde nahm Schaden und wurde immer kleiner.

„Unser Glaube ist der Sieg, der die Welt überwunden hat.“  Ich denke, vor diesem Hintergrund bekommt dieser Siegessatz eine andere Farbe. Er wirkt einerseits wie eine Durchhalteparole: „Lasst euch nicht irritieren und vom Weg abbringen, auch wenn ihr seht, dass wir immer weniger werden.“ Andererseits wirkt er wie eine Barriere: Wir sind die Gewinner. Aber die anderen… tja. Was sind die eigentlich? Wir sind durch das Band der Liebe mit einander verbunden. Aber die Anderen gehören nicht dazu.“

Zwei Parteien, zwei Mannschaften, aber nur ein Sieger.

  1. So ist das mit den Siegen. Die, die gewinnen, sie dürfen auf die höchste Stufe des Siegertreppchens. Und dann werden sie beklatscht und mit Champagner übergossen. Sie bekommen Medaillen und Orden und manchmal auch eine Bronzestatue. Das Radio und das Fernsehen kommen, denn natürlich wollen die Menschen Bilder: vom Sieg, vom Sieger und vom Freudentaumel. Emotion pur.

Beim Sport hat das natürlich seinen Platz. Alles andere wäre langweilig. Wer mal im Stadion war und nach einem gewonnenen Spiel seiner Mannschaft mitgejubelt hat, der weiß wie großartig das ist. Was wäre ein gewonnenes Rennen ohne Champagnerdusche? Was wäre ein gewonnenes Fußball-, Hockey- oder Rugbyspiel ohne Fans, die den Sieg über den Gegner feiern? Gerade das macht ja den Reiz aus.

Aber für eine Gemeinde? Da, wo ein Sieger ist, da ist in dieser Welt auch immer mindestens ein Verlierer.

Und das heißt, es gibt Enttäuschte, Menschen, die alles gegeben haben, die aber dann doch auf Platz zwei landen. Oder es gibt Menschen, die überhaupt keinen Platz mehr finden… und gehen.

  1. Diese „Exklusivität des Siegers“ steckt durchaus auch im Text aus dem 1. Johannesbrief. Aber gleichzeitig eröffnet er auch eine Möglichkeit, eine Tür in den Wänden und Mauern zwischen den Parteien zu öffnen. Es ist ein wenig paradox, aber der Schlüssel dazu steckt genau in diesem Siegessatz: „Unser Glaube ist der Sieg, der die Welt überwunden hat.“

Bei der Überwindung der Welt geht es dem 1. Johannes um Gemeinschaft. Die Welt zu überwinden, heißt den Ärger zu überwinden, die Wut, die Enttäuschung, die Abneigung gegen den oder die andere. Es geht darum, das zu überwinden, was eine Gemeinschaft verhindert. Es geht darum, sich auf eine Beziehung einzulassen, die aus der Liebe lebt. Nicht als Gefühl, sondern als Haltung, als Einstellung gegenüber dem, der in der Kirchenbank neben mir sitzt und gegenüber dem, der da noch nicht oder nicht mehr sitzt.

Im Johannesbrief taucht dieser Gedanke in nur einem Wort auf: im Gebot, im Gebot zu lieben, Gott zu lieben und im Glauben an Gott und seinen Sohn auch seinen Mitmenschen zu lieben. Welcher Mitmensch ist nicht auch Gottes Kind?: Daran erkennen wir, dass wir Gottes Kinder lieben, wenn wir Gott lieben und seine Gebote halten. Denn das ist die Liebe zu Gott, dass wir seine Gebote halten;

In dieser Liebe steckt die Kraft, das zu überwinden, was trennt, die Welt mit ihrem Streit, mit ihren Verletzungen und Enttäuschungen. Es ist die Liebe, die aus dem Glauben wächst. Und es ist die Liebe, die Freiheit schenkt. Freiheit von: von Vorschriften, von „das muss und kann nur so sein und nicht anders“, von Starrheit, von Angst, und Freiheit davon, ständig gegen einen Gegner kämpfen zu müssen um nicht zu den Verlierern zu gehören. Und es ist die Freiheit zu: die Freiheit, die uns frei macht, zu Akzeptanz, zum Aushalten von anderen Meinungen, Denk- und Lebensweisen.

Der Johannesbrief behauptet, diese Gebote seien nicht schwer. Naja, Hand aufs Herz, ich vermute Ihre und meine Lebenserfahrung würde etwas anderes behaupten. Das Gebot zu Lieben ist durchaus auch eine Zumutung. Alles andere wäre Augenwischerei.

Aber wie ein Trainer in der Kabine seinen Spielern, gibt der Briefeschreiber seinen Lesern einen Motivationssatz mit: Denn alles, was von Gott geboren ist, überwindet die Welt.

Ihr seid von Gott geboren. Wir sind von Gott geboren. Und deswegen kann es gelingen. Der 1. Johannes traut seinem Glauben etwas zu. Das, was es braucht, um Türen zu öffnen und Trennendes zu überwinden, ist Euch mitgegeben. Es ist die Gemeinschaft mit Gott, um den sich die Gemeinde sammelt. Und es ist der Glaube und die Liebe aus dem Glauben, die euch zur Verfügung steht, um Barrieren aus dem Weg zu räumen. Deswegen kann er sagen: Und seine Gebote sind nicht schwer. Denn: Unser Glaube ist der Sieg, der die Welt überwunden hat.

Man stelle sich nur mal vor, wie es wäre, wenn das gelingt. Wohin das Auge blickt: Jubel. Jubel. Jubilate. Amen.