Gemeindebriefe 2021

Liebe Wohltorfer,
liebe Krabbenkamper,

so oder so ähnlich beginnen die Gemeindebriefe.

Auch die alten Briefe ab Dezember 2003 bis Dezember 2016 in unserem alten Web-Auftritt noch einmal lesen. Außerdem die Gemeindebriefe 2017, 2018, 2019, 2020.

Hier finden Sie die Gemeindebriefe 01/2021, 02/2021, 03/2021, 04/2021, 05/2021, 06/2021, 07/2021, 08/2021, 09/2021, 10/2021, 11/2021, 12/2021


Dezember 2021

Liebe Wohltorfer, liebe Krabbenkamper,

Foto: Pastor Enzenauer

Ich gehöre zu den Menschen, die finden, dass Technik einfach funktionieren muss. Ich möchte keine langen Handbücher in zwölf Sprachen lesen, nur um meine Kaffeemaschine bedienen zu können. Ich möchte kein Einführungsseminar für ein neues Computer-Tool belegen. Und ich möchte auch nicht stundenlang auf meinem Handy im Internet recherchieren, um herauszufinden, warum das Internet auf meinem Laptop den Geist aufgegeben hat. Technik soll einfach tun, wozu sie da ist: Stecker rein und los.
Leider sieht die Technik das oft anders.

Neulich funktionierte das Festnetztelefon im Pastorat nicht. Handbücher und Internetrecherche, selbst der Kundendienst der Telefonfirma halfen nicht weiter. Meine Stimmung war am Tiefpunkt. „Die einzige Möglichkeit, Sie kurzfristig erreichbar zu machen, ist: Sie kaufen sich eine zweite Handy-Karte, legen die in ein altes Handy und lassen die Anrufe direkt dorthin umleiten.“, sagte der Telefonsachverständige.

Ich zog also los, um dieses kleine Stück Technik zu besorgen, das man ja heute schon in Supermärkten bekommt. Genau da stand ich nun und hielt einen Gutschein für eine Handykarte in Form einer durchdesignten Plastikkarte in den Händen, die ich vorher in einem Aufsteller entdeckt hatte.

Ich war froh diesen Gutschein gefunden zu haben. Denn irgendwie fühlte es sich seltsam an, in einem Supermarkt zwischen Kochschinken, Paprika und Handcreme nach einer Handykarte zu fragen. Aber mit diesem Gutschein müsste ich nicht fragen. Ich müsste einfach nur das kleine Plastikding an der Kasse abgeben und würde dafür die eigentliche Handykarte bekommen.

Als ich endlich an der Reihe war, reichte ich diesen Gutschein erleichtert an die finster wirkende Kassiererin weiter. Sie aber sagte: „Das Ding können sie wieder zurückhängen. Das ist nutzlos. Sie können mir einfach sagen, was sie möchten und ihre Handykarte bei mir kaufen. Diese Gutscheine hat man nur erfunden, damit die Menschen noch weniger miteinander reden müssen.“

Das hatte ich nicht erwartet. Und ich fühlte mich ertappt. Ich hatte nicht erwartet, dass die Kassiererin, die so fi nster guckte wie abgesehen von Busfahrern nur Kassiererinnen gucken können, es bedauerte, immer weniger mit ihren KundInnen reden zu können. Und ich fühlte mich ertappt, weil ich vorher froh darüber war, dass ich mit dem Gutschein in der Hand kaum mit ihr hätte reden müssen. Ich wusste ja nicht …

Jetzt redeten wir miteinander, nur ein paar kurze Bemerkungen, aber wir redeten miteinander: über das Reden, darüber, dass viele sich beim Einkaufen lieber aneinander vorbeischieben, als den anderen anzusprechen, ob er nicht einen Schritt beiseitetreten könnte. Und wir redeten über die Zeit, die so verrückt ist, dass Menschen zwar unzählige Möglichkeiten haben, miteinander zu kommunizieren, dass sie das aber offenbar immer weniger tun, am allerwenigsten mit Menschen, denen sie zwar begegnen, die sie aber noch nicht kennen. Vom Einander-Verstehen ganz zu schweigen.

Ich war ein wenig beschämt und nachdenklich als ich den Supermarkt verließ. Aber das ist in Ordnung, denke ich. Es ist ja jetzt Advent, Zeit der Vorbereitung und Besinnung auf Weihnachten. Da passt das schon.

Da fällt mir ein: Man stelle sich nur mal vor, Elisabeth hätte Maria nicht gesegnet und der Engel hätte nicht mit den Hirten auf dem Felde geredet. Kein „Gesegnet bist du unter den Frauen“ und kein „Siehe ich verkündige euch große Freude …“ wäre durch die Welt gegangen. Man stelle sich vor, die Hirten hätten nicht weitererzählt, was sie von dem Kind in der Krippe gehört und gesehen hatten, sondern hätten es für sich behalten. Man stelle sich vor, die heiligen drei Könige hätten sich nicht durchgefragt zum Stall. Man stelle sich vor, sie alle hätten damals nicht miteinander geredet und einander zugehört. Wahrscheinlich säßen wir jetzt da. Ohne Weihnachtsgeschichte! Nur mit unseren Gutscheinen. Wie traurig wäre das?

Ihr Pastor

René Enzenauer

nach oben


November 2021

Liebe Wohltorfer, liebe Krabbenkamper,

Foto: Pastor Enzenauer

„Kannst Du heute Abend einmal rüber gehen und abschließen?“, fragte sie mich per Handynachricht. Und weil ich kann, gehe ich am Abend rüber zum Pastorat, das bis vor ein paar Tagen mein Zuhause war. Jetzt ist es eine Baustelle.

Schlammige LKW-Spuren führen quer durch den Rasen und vom Baum gefallene Äpfel liegen in tiefen Pfützen. An der Hecke lagert Baumaterial, daneben steht die Mulde mit dem Bauschutt. So dicht nebeneinander liegen Abriss und Aufbau.

Bevor ich die offene Eingangstür abschließe, will ich sehen, wie es drinnen aussieht:

Auf dem Dielenboden liegen zum Schutz aufgeklebte Stoffbahnen und eindrucksvolle Werkzeuge. Und über allem liegt feiner roter Staub. Vor vielen Jahren brachte mir eine Freundin ein wenig Sand aus der Namib-Wüste mit. Jetzt stehe ich im Pastorat inmitten von Baustaub und erinnere mich an dieses Geschenk.

Foto: Zettel 1929 mit Namen der MaurerApropos Erinnerung: Man findet einiges, wenn man so ein altes Haus saniert: zwei unmusikalisch gewordene Posaunen auf dem Dachboden, hinter der Heizung ein altes Familienfoto einer Vorgänger-Pastorenfamilie und in einem verborgenen Schacht in der Wand eine Liste aus dem Jahr 1929 mit den Namen der fünf Maurer, die das Pastorat gebaut haben.

Ich wage mich im Dunkeln ein paar Meter vor und bin nun dort, wo mein Büro sein sollte. Aber das Büro ist weg. Jetzt liegt dort ein Berg aus abgebrochenen Backsteinen.

Ich bin nicht sentimental. Und ich stehe zu meinen Entscheidungen, die ich nach reichlichem Abwägen und Überlegen nach bestem Wissen gefällt habe. Aber ein Schutz vor dem Teufel, den man „Zweifel“ oder „Anfechtung“ nennt, ist das nicht. Und so schaue ich auf den Schutt in meinem Büro und merke wie Fragen aus den Ritzen zwischen den kaputten Steinen kriechen: Na? Bist Du wirklich sicher, dass das so richtig ist? Die abgebrochenen Wände, die heraushängenden Stromleitungen, der Staub? Hätte nicht ein Eimer Farbe und vielleicht noch etwas Dämmung unterm Dach auch gereicht? Es gibt Leute, die mir genau das gesagt haben.

So ist das mit dem Zweifel. Er kriecht und schleicht und schlängelt sich in die Gedanken. Er kommt als Frage, auf die es meistens keine einfache Antwort gibt. So war das damals schon bei Adam und bei Eva in ihrem Gartenparadies. „Hat Gott wirklich gesagt, dass ihr von keinem der Bäume im Garten essen dürft?“ So zischelt sie den Menschenkindern ins Ohr. So säht sie Misstrauen und Angst vor Fehlern.

Und dann beginnt die aufwendige Antwortsuche, nach Gewissheit und Sicherheit, damit man sich als Menschenkind wieder gut fühlt, mit seinen Entscheidungen oder mit seinem Glauben.

Aber Sicherheit gibt es meistens nicht. Schon gar nicht in den wirklich wichtigen Fragen. Und wenn es sie gibt, dann meistens hinterher. Da ist man immer schlauer. So ist das Leben seit der Schöpfung eingerichtet.

Deswegen wird dir der Zweifel immer wieder um die Beine kriechen, bei deinen Lebens- und bei deinen Glaubensfragen. Er setzt sich neben dich ans Krankenbett, wenn du dich fragst, ob du gesund wirst. Du triffst ihn beim Spaziergang, wenn du darüber nachdenkst, ob du berufl ich an der richtigen Stelle bist. Manchmal ruft er an und sagt dir, dass du etwas falsch gemacht hast. Und er steht neben dir am offenen Grab.

Natürlich weiß ich, dass auch der Zweifel eine gute Seite hat: Wer zweifelt, glaubt nicht alles, was er hört und tut nicht alles, was man ihm sagt. Der prüft immer wieder, ob die Lebensrichtung stimmt. Aber einfacher wird es dadurch nicht.

Es wird Zeit. Ich schließe die Tür zum Pastorat ab und schreibe dabei eine Nachricht in mein Handy: „Sag mir, dass es gut wird!“ Es dauert nicht lange bis die Antwort kommt: „Es wird nicht nur gut. Es wird grandios.“ Und ich denke: Das glaube ich auch. Hilf meinem Unglauben. (Mk 9.24)

Ihr Pastor

René Enzenauer

nach oben


Oktober 2021

Liebe Wohltorfer, liebe Krabbenkamper,

 

Foto: Jana CoenenDrei italienische Pastores klagen untereinander über ihre Fledermäuse, die im Kirchturm hausen. Was können sie dagegen tun? Sie treffen sich einige Wochen später. „Und?“ fragt der Eine. „Ich habe versucht, sie mit Räucherstäbchen auszuräuchern. Hat nichts gebracht,“ berichtet die Erste. „Ich habe tagelang das Licht brennen und das Radio spielen lassen, es sind sogar noch mehr geworden!“ wettert der Zweite. Die Dritte lehnt sich im Stuhl zurück. „Tja, ich bin sie alle los. Ich habe sie alle der Reihe nach getauft und konfirmiert und habe sie danach nie wieder gesehen.“

Getauft, konfirmiert und danach abgetaucht – das, was im Witz für die Fledermäuse gilt, kann ich nach allem, was ich bisher in meinem Praktikum in Ihrer Wohltorfer Gemeinde gesehen habe, nicht bestätigen.

Stattdessen habe ich erlebt, dass für Sie Gemeinschaft zählt: Ich traf auf den Küster- und Lektorenkreis und auf die Elterninitiative für Jugendarbeit. Sie arbeiten in Teams zusammen, um etwas zu erreichen, was ihnen wichtig ist.

Ich habe erlebt, dass Sie gerne Gottesdienst feiern, sich auf die Predigt freuen und manchmal sogar schon vor dem Gottesdienst den Predigttext kennen.

In der Kita haben die Kinder um mich herum schon angefangen zu singen, wenn Pastor Enzenauer nur die ersten Töne der Lieder gespielt hatte. Ich war erstaunt, wie sehr sich Konfis auf biblische Geschichten einlassen können, dass sie Fragen an den Text haben, sich selbst darin wiedererkennen, aber auch Kritik äußern, wenn ihnen etwas ungerecht vorkam. In einer Stunde konnten sie sich einen Bibelvers aussuchen und selbst mal auf der Kanzel stehen und über ihren Vers „predigen“. Es war toll, was ihnen alles dazu einfiel und wie selbstbewusst sie dort oben standen.

Wenn wir nach dem Konfi unterricht aus dem Gemeindehaus kamen, stand der Parkplatz immer schon voller Autos und in der Kirche sang die Kantorei und manchmal konnte man die Zwitscherkantorei für ihr Musical proben hören.

Ich hörte auch von Veränderungen, von Themen wie Regionalisierung und dem Umbau auf dem Kirchberg, dass es manchmal auch schwerfällt, Vertrautes zu verändern.

Vorher war für mich Regionalisierung immer eher negativ konnotiert, doch die Erfahrungen während des Praktikums brachten mich dazu, das in Frage zu stellen. Kirche ist nicht nur ein Ort, Kirche ist nicht der Kirchberg, sondern entsteht aus dem Zusammenwirken von Menschen, die ihren Glauben leben. Wenn man sich dessen bewusst ist, können Veränderungen auch gut sein. Solange es Menschen gibt, die sich engagieren und denen Kirche wichtig ist, ist Gemeinde da. Diese Gemeinde wird nicht zusammengehalten durch Grenzen, sondern durch Menschen. Was können wir daher gewinnen, wenn wir uns öffnen und mit anderen Gemeinden der Umgebung in manchen Aspekten zusammenarbeiten? Auf jeden Fall kann es bewirken, dass Kirche und ihre Strukturen nicht still stehen, sondern immer wieder aktualisiert werden und somit zum Leben der Gemeinden passen.

„Kirche ist nicht mehr relevant,“ rufen immer mehr Menschen. Doch mein Eindruck von Wohltorf ist: Die Kirchengemeinde lebt und floriert, denn die Menschen sind da und beisammen. Kirche ist Ihnen wichtig und es ist schön, dass Sie sich daran erfreuen, was Sie sich hier aufgebaut haben.

Als ich hierhin kam, wollte ich lernen, gute Predigten zu schreiben. Schon nach der ersten Woche ist mir klar geworden, gute Predigten allein reichen nicht. Sie sind nur ein kleiner Teil. Kirche ist mehr.

Es hat mich daher gefreut, Ihre Gemeinde kennenzulernen, die sich so engagiert, schon vor ihrer Gründung, die von Menschen getragen und mit Leben gefüllt wird und die sich traut, weiter zu denken und neue Fragen zu stellen.

Sie haben also Glück, dass in Ihrem Kirchturm keine Fledermäuse wohnen. Die würden Sie mit einer Konfirmation bestimmt nicht so einfach loswerden.

Jana Conen,
Theologiestudentin

nach oben


September 2021

Liebe Wohltorfer, liebe Krabbenkamper,

Foto: Pastor Enzenauer

Wir waren in Avallon – nicht das Avalon mit den Nebeln und mit König Arthur in England, sondern das Avallon in Frankreich, eine kleine Stadt im Burgund, die für ihre schicke Innenstadt samt mittelalterlicher Stadtmauer und für ihre Süßwaren bekannt ist.
Eine Kostprobe der Letzteren hatten wir gerade genüsslich in Begleitung eines Café au lait verspeist, als wir beim anschließenden Schlendern am Portal einer Kirche vorbei kamen.

Beide Türflügel waren weit geöffnet, aber das, was man sah, wenn man von der sommerlichtdurchfluteten Straße hineinblickte, war nichts als eine finstere Höhle, in der sich schemenhaft ein paar Bankreihen abzeichneten. „Einladend ist anders.“, dachte ich, aber ich ließ mich locken.

Ein paar Stufen führten hinab in den Kirchraum. Die Luft dort war feucht und roch seltsam. Ich gebe zu, dass mir durch den Kopf ging, dass die Kirche durchaus passend dem Heiligen Lazarus geweiht ist, den Jesus von den Toten auferweckte und von dem es in Johannes 11,39 heißt: Er ist schon vier Tage tot. Er stinkt schon.

Davon abgesehen barg dieser Ort aber ein paar Schätze. Mich faszinierte die kunstvolle Schnitzerei an der Orgelempore aus dem 15. Jahrhundert. Ich fand die Trompe l’Oeil-Malereien in einer Seitenkapelle interessant, die von ferne so aussahen, als handele es sich um Heiligenskulpturen. Erst wenn man näher trat, erkannte man, dass diese „Skulpturen“ lediglich gemalt waren.
Das Bemerkenswerteste für mich aber war Josef. Er steht in Gold gewandet rechts neben dem Altar in einer Nische und hält das Jesuskind in seinen Armen. Vor dieser Heiligenfigur musste ich stehen bleiben und einfach gucken.
Es ist eine intime Szene, die eine große Ruhe ausstrahlt: wie Josef die Hand „seines“ Sohnes hält, die Art und Weise, wie der kleine Jesus sich an Josefs Schulter kuschelt, dazu der versonnene Blick. Das Foto gibt das nur unzureichend wieder. Für den Moment dort aber, war das einfach ein schöner Anblick, der mir zudem ein paar Gedanken über das Thema „Männer in der Kirche“ bescherte.

Als Student habe ich erlebt wie in einem Seminar, in dem ich der einzige Mann war, darüber diskutiert wurde, dass der sonntägliche Gottesdienst mehrheitlich von Frauen besucht wird – wahrscheinlich, weil Singen, Beten und all die vielen Worte in der Predigt eher was für Frauen wären. Die Männer waschen zu dieser Zeit das Auto in der Einfahrt oder mähen Rasen. So meine man. Statt Gottesdienst mit Reden bräuchten Männer andere Formen. Etwas mit dem Körper tun wie Pilgern beispielsweise. Oder etwas Handwerkliches.

Aber auch inhaltlich sei der christliche Glaube für Männer eher schwierig, hörte ich. Aspekte wie Liebe, Sanftmut, Demut und Vergebung wären Männern schwerer zugänglich. Und überhaupt: Der Glaube betone ja den Umgang mit dem Tod, mit Schwäche und dem Leiden. Welcher Mann wolle sich schon damit gern befassen?!

„Aha.“, dachte ich damals, schaute auf meine handwerklich recht unbegabten Hände, dachte an meine schlechte Sportnote auf dem Abi-Zeugnis, fragte mich, welche Frau denn gerne leide und zitierte Loriot: „Männer sind und Frauen auch. Überleg dir das mal!“ Und dann fiel mir der Pastor aus der Männerarbeit ein, der mir erzählte, dass es bei ihm zu Beginn von Vater-Kind-Freizeiten ein Ritual gibt: Alle Väter stehen mit ihren Kindern im Kreis um ein großes Lagerfeuer. Und dann wirft nacheinander jeder Vater den Zettel in die Flammen, den ihm seine Frau geschrieben hat und auf dem steht, was er beim Umgang mit dem Kind zu beachten hätte. „So einen Zettel bekommt fast jeder Mann von seiner Frau – ungefragt.“ Das sei seine Erfahrung, sagte mir der Männerpastor damals und fügte hinzu: „Aber Männer wissen auch ohne Zettel, was für ihre Kinder gut ist. Und Kirche und Glaube können sie auch.“

Foto: Josef in AvallonDaran dachte ich und schaute auf den goldenen Josef mit dem Jesuskind im Arm.

Es war schön, in Avallon.

Ihr Pastor

René Enzenauer

nach oben


August 2021

Liebe Wohltorfer, liebe Krabbenkamper,

Foto: Pastor Enzenauer

Freilegen oder nicht? Das ist hier die Frage! Jedenfalls ist das die Frage einer Dokumentation, die mich fasziniert hat.

Das Corpus delicti, um das es dabei ging, war das Bild Briefleserin am offenen Fenster von Jan Vermeer aus der Mitte des 17. Jahrhunderts. Es misst gerade einmal 83 x 65 Zentimeter, bietet aber Kunsthistorikerinnen und Restauratoren Diskussionsstoff, mit dem sich Konferenzen füllen lassen und – ganz nebenbei – Anregung für meine eigenen wilden Gedanken.

Nomen ist im Falle dieses Bildes tatsächlich Omen. Es zeigt eine kompliziert frisierte junge Frau, die versonnen an einem geöffneten Fenster steht und dabei einen Brief liest, den sie in beiden Händen hält. Vor ihr liegen in einer Schale auf einem kunstvoll drapierten Teppich Äpfel und Pfirsiche.

Vielleicht ist einem Betrachter um das Jahr 1650 bei diesem Anblick eine leichte Röte ins Gesicht gestiegen. Und eine Betrachterin hat möglicherweise hinter vorgehaltener Hand getuschelt: „Äpfel und Pfirsiche, das ist ja wie Adam und Eva.“ Und dann hat sie verlegen gekichert. Für die pikanten Dinge des Lebens muss man manchmal Wissen haben …

Im 18. Jahrhundert hat man dieses Bild für einen Rembrandt gehalten. Weil das Licht darin so schön leuchtet, weil das Bild so eine geheimnisvolle Stimmung hat und weil im Vordergrund ein Vorhang gemalt ist. Rembrandt war ein Meister beim Licht, bei geheimnisvollen Stimmungen und bei gemalten Vorhängen. Und da dachte man sofort an ihn. Aber das war ein Irrtum. Der erste, um genau zu sein. Denn ein zweiter Irrtum sollte folgen: Das eigentlich Aufregende ist der Hintergrund des Bildes. Die junge Frau steht nämlich vor einer schlichten Wand, ohne jeglichen Schmuck. Genau hierin irrte die Kunstwelt aber.

In den 70ern kam man auf den Gedanken, das Bild zu röntgen. Dabei entpuppte sich der Vorhang als eine spätere Hinzufügung und die schlichte Wand in geradezu sensationeller Weise als „dekoriert“. Denn unter einer Schicht aus Farbe und „Vorhang“ schauten Restauratorenaugen plötzlich auf einen Cupido.

Das Bild war im Laufe seiner Geschichte verändert worden. Das, was Generationen von Museumsbesucherinnen gesehen, bestaunt und geliebt hatten, war nicht das Original, sondern eine später veränderte Version.

Nun wurde diskutiert: Soll man die Farbe abkratzen und den Cupido freilegen, oder nicht? Was heißt „original“? Was heißt „historisch“? Ist nicht auch das veränderte Bild inzwischen „historisch“? Denn so kennen wir und unsere Altvorderen es doch. Und so haben wir es lieb gewonnen, auch wenn Vermeers Zeitgenossen eine andere Version liebten und als „original“ bezeichnet hätten.

Genau an dieser Stelle fangen meine Gedanken an zu Kreisen. Denn diese Diskussionen kommen mir bekannt vor. Als ich nach neu nach Wohltorf kam, bat ich nach einer Weile darum, die alten bronzenen Kerzenständer wieder auf den Altar zu stellen. Sie waren ersetzt worden durch drei schlichte Kerzen in einer Schale. Und nun kam „der Neue“ und holte „das Alte“ wieder hervor. So hat es damals jemand durchaus wohlwollend kommentiert. Bei Kirchens verändert man nichts „mal eben so“. Nicht mal Kerzenständer.

Beim Pastorat wird es demnächst genau anders sein. Ab September werden Baugerüste daran zu sehen sein: Wir bauen um. Aus der unteren Etage werden Büroräume, aus der oberen und dem Dachgeschoss wird die Pfarrwohnung. Denn ohne diesen Umbau fehlen uns nach dem Abriss des Gemeindehauses im nächsten Jahr Büros. Das originale und „historische“ Pastorat wird dann anders aussehen. Man könnte sagen: Der KGR hat beschlossen, „den Cupido zu übermalen“.

Für manch einen mag diese Vorstellung nicht angenehm sein: Ist das nötig? Sollte es nicht so bleiben wie es war, im Original und „historisch“ und wie wir es liebgewonnen haben? Ich weiß, dass viele Wohltorfer eine Geschichte mit dem Pastorat verbinden. Manche haben damals sogar als Flüchtlinge hier eine Bleibe gefunden.

Trotzdem lehrt Vermeers Bild, dass die Antwort auf diese Fragen komplex ist. Denn die Frage, was original und historisch ist, stellt sich immer zweimal. Das erste Mal sofort, das zweite Mal nach ein paar Generationen. Das Großartige ist aber, dass beiden „Originalen“, „ob mit oder ohne Cupido“, das Potential innewohnt, lieb gewonnen zu werden.

Ihr Pastor

René Enzenauer

nach oben


Juli 2021

Gemeindebrief als Skizze

Und da die Skizze nicht barrierearm lesbar ist, kommt der Inhalt hier nochmal als Text:

Liebe G. Meinde,

auf diesem Wege schicke ich Dir liebe Urlaubsgrüße aus einem der schönsten Winkel dieser Welt.

Der Himmel ist blau. Das Wasser ist kalt. Die Berge sind hoch. Das Essen ist, nun ja, bemerkenswert. Und das Wetter ist wie immer – wie es nun mal ist. Aber ich genieße Land und Leute und freue mich an dieser schönsten Zeit des Jahres, die dafür eingerichtet ist, genau das zu tun, wozu man Lust hat. Was für eine Errungenschaft der Zivilisation! So müssen sich Adam und Eva im Paradies gefühlt haben: den ganzen Tag einfach nur sein, lustwandeln und abends, in der „Dämm’rung Kühle“, den Tag ausklingen lassen. Schöpfung at its finest!

À propos Adam und Eva: Als Gott die Welt gemacht hat, da hat Gott sich am siebten Tage davon ausgeruht. Warum? – Das steht nicht geschrieben. Manche sagen: Die Weltschöpfung sei so anstrengend gewesen, dass selbst Gott danach eine Pause brauchte. Aber das glaube, ich nicht. Ich glaube, Gott ruhte, weil Gott Abstand brauchte. Denn erst mit Abstand kannst Du sehen, was Du hast; kannst Du reflektieren, was Du willst; merkst Du, was Du brauchst, kannst genießen und kannst dich dann auch wieder auf die Teile deiner Arbeit freuen, die Dir mehr geben als das bloße Geld zum Überleben.

Naja, über was man so alles nachdenkt, wenn man am Strand hockt und ausreichend Zeit hat. Nun aber genug davon. Dir wünsche ich eine gesegnete Urlaubszeit, mit viel Abstand – zum Erholen, zum Nachdenken und zum Lustwandeln wie Adam und wie Eva.

Alles Liebe,

Dein RE

PS: Bitte erwarte kein Urlaubsmitbringsel. Ich bin so schlecht in solchen Dingen.

nach oben


Juni 2021

Liebe Wohltorfer, liebe Krabbenkamper,

Foto: Pastor Enzenauer

Man muss Gott mehr gehorchen als den Menschen. Dieser Satz steht in der Apostelgeschichte. Kapitel 5, Vers 29. Es ist der einzige Satz auf der Doppelseite meiner Bibel, der fett gedruckt ist.

Man muss Gott mehr gehorchen als den Menschen.

So steht er da. Breit und fett und unheilvoll. Wie ein Stein, der vom Himmel auf die Erde fiel. Mit diesem Satz-Baustein kann ein Mensch eine Verteidigungsmauer um seinen Glauben bauen. Oder er kann eine Diktatur mit ihm errichten.

Der Satz ist ja auch genau so gebaut, wie Diktaturen es gern haben. In ihm gibt es kein Ich und kein Du. In ihm gibt es nichts Persönliches oder Individuelles. Es gibt nur „man“.

Man könnte meinen, er wäre nicht persönlich gemeint: „Tut mir leid,“, könnte die Apostelgeschichte sagen, „da ist Dir mein Meteorit beinah auf den Kopf gefallen. Nichts für ungut. Ist nicht persönlich gemeint.“ Aber das täuscht. Der Satz ist ernst. Und er meint alle und alles, ohne Ansehen der Person. Man muss! Gehorchen!

Dieses Wort verwandelt diesen Satz. Aus dem Meteoriten wird ein prall gefüllter Luftballon. Und Gehorchen ist der Nadelstich, der ihn zum Platzen bringt. Jetzt gibt es einen Knall und das Viele, was darin war, wird in alle Richtungen in die Welt geschleudert.

Luther rauscht an mir vorbei. Ich sehe ihn vor mir wie im Film. Reichstag in Worms. Er soll seine Schriften widerrufen. Aber er sagt so ungefähr: „Wenn ich nicht durch Zeugnisse der Schrift und klare Vernunftgründe überzeugt werde, dann widerrufe ich nicht.“ Er hätte auch sagen können: Man muss Gott mehr gehorchen als den Menschen.

Dann denke ich an ihn, der mir erzählt hat, dass er ungern in einer Kirche ist, weil Kirchen ihm unheimlich sind. Weil er sich unwohl fühlt in der Gegenwart eines strengen Gottes. Dass Gott streng ist, hatte er als Kind gelernt. Du sollst gehorchen! Das ist bis heute nicht aus seinem Kopf verschwunden.

Ich denke an „Das goldene Anstandsbuch“, das alte Ding, das bei mir im Regal steht. Darin gibt es Benimmregeln für Bälle, Aufwartungen und Diners. Und es gibt Seiten, auf denen steht, wie ehrfurchtsvoll man den irdischen Vertretern Gottes begegnen soll. Gehorchen sollst Du! Sie repräsentieren Gott. Und ich denke an die Geschichten der Alten von despotischen Pastores. Ein Pastor-Kollege in Niedersachsen taucht vor mir auf. Ich habe von ihm gelesen. In seinem letzten Gemeindebrief hat er den Zeitgeist, Feminismus, Genderforschung und homosexuelle Partnerschaften verantwortlich gemacht für die „Auflösung der Familie“, die wiederum die Ursache für psychische Erkrankungen bei Kindern wäre. Dazu kamen Corona und die theologische Garnitur: Corona sei wie eine Strafe Gottes, der die Menschen wieder auf den rechten Weg bringen will. Unsere Aufgabe sei es deswegen, „dafür einzutreten, was Gott in seinem Wort sagt.“ Auch er hätte schreiben können: Man soll Gott mehr gehorchen als den Menschen.

Ich denke an alle, die sagen: „Ich will nicht gehorchen. Ich will denken.“ Und ich sehe die vor mir, die keinen Platz im Glauben und in der Kirche finden, weil sie den vermeintlichen aber so empfundenen Glaubensregeln nicht gehorchen können: „Das bin nicht ich.“

Skizze vom Mäusepastor mit geplatztem BallonUnd jetzt? Jetzt ist der Ballon geplatzt. Und alles, was darin war, ist hinweggeschleudert. Der große Druck ist raus. Aber eine Spannung bleibt!

Dann sagt einer zu mir: „Ich würde ja gern wissen, was Gott von mir will.“

Da denke ich an meinen Dienstagvormittag in der Kita. Ich hatte den Kindern eine Geschichte erzählt. Von einem Schaf, das verloren ging. Und der Hirte ließ alles stehen und liegen und suchte das Schaf so lange, bis er es fand. Und dann nahm er es auf den Arm. Und er trug es nach Hause.

Ihr Pastor

René Enzenauer

nach oben


Mai 2021

Liebe Wohltorfer, liebe Krabbenkamper,

Foto: Pastor Enzenauer

Es war wieder einmal eine Situation, die sich einfach ergibt, die man nicht planen oder herstellen kann. Umso wichtiger ist sie mir aber geworden. Deswegen will ich davon erzählen:

Öffne deinen Mund …

Es war einer dieser schönen Tage, die sich einfach gut anfühlen, ein Tag, an dem man sich die Sonne ins Gesicht scheinen lässt und an dem man den Eindruck gewinnen könnte, dass die Welt, das Leben und das Universum im Großen und Ganzen doch ein guter Kerl ist. Ich war jedenfalls zufrieden. Mit mir. Mit Gott und allem anderen.
Ich ging zur Kirche, wo ich mit jemandem verabredet war, um einen banalen Schlüssel zu übergeben. Als ich ankam, war meine Verabredung schon da. Sie saß auf der Bank neben dem Baum, in dem im Sommer normalerweise die Kinder klettern, und ließ sich die Sonne ins Gesicht scheinen.
„Moin!“, sagte ich. „Moin!“, sagte die Verabredung. Dann war Stille. Eine Unterhaltung norddeutscher Art. Könnte also länger dauern. Ich setzte mich zu ihm auf die Bank. „Na?“, sagte ich, „Alles klar?“. „Joah, ok.“, sagte er. Dann war stumme Stille.

Öffne deinen Mund für den Stummen …

Ich kenne ihn, seitdem ich in Wohltorf bin. Irgendwann habe ich ihn konfi rmiert. Danach war es, wie es oft ist: Wir hatten uns ein wenig aus den Augen verloren. Es gab anderes, was „dran“ war. Aber eines Tages rief er mich wegen einer Sache an und wir blieben in Kontakt. Und nun saßen wir auf der Bank neben der Kirche und redeten auf Norddeutsch: Stille.
„Und sonst?“, fragte ich. „Hm.“, sagte er. Und dann erzählten wir. Über Lehrer, die Schule, sein Abitur. Wir redeten über das, was jetzt gerade für ihn „dran“ ist: die Wohnungssuche in der fremden Stadt, der Umzug, die Immatrikulation an der Uni, die ersten Studienfächer, neue Umgebung, neue Leute, neue Freunde. „Hoffentlich!“, sagte er. „Hoffentlich?“, fragte ich.

Öffne deinen Mund …

Und dann erzählte er. Von Sorgen und Befürchtungen. Wie neue Freunde finden in Corona-Zeiten, in einer fremden Stadt, weit weg von den alten Freunden und weit weg von den Eltern, Geschwistern und der Familie? Wie Kontakte knüpfen, wenn die Vorlesungen und Seminare online stattfinden und die Kneipen zu haben, man nicht tanzen gehen kann und man eigentlich Kontakte reduzieren soll? Wie durchstarten nach der Schule und wie durchstarten ins Leben, wenn so vieles nicht geht und nicht sein soll?
„Mist.“, sagte er. „Ja, Mist.“, sagte ich. Und „Mist“ sagen viele. Von ihnen will ich reden.

Öffne deinen Mund für den Stummen, für das Recht aller Schwachen. (Spr 31,8)

Denn es gibt viele wie ihn. Die einen sind in einem Alter, in denen es jetzt so richtig losgehen sollte. Stattdessen aber startet das Leben nach der Schule wie eine Autofahrt mit angezogener Handbremse. Die anderen sind in einem Alter, in dem sie morgens ihre Eltern fragen, ob sie in die Kita dürfen. Und wenn Mutter oder Vater sagen müssen: „Nein, heute geht das leider nicht.“, weil Kita-Notbetrieb verordnet ist, dann kullern Tränen. Wieder andere haben ihren Konfi-Kurs, mit dem sie zum Beispiel auf Freizeit fahren wollten, fast ausschließlich über das Internet erlebt. Und dann sind da noch die, die nach einem Mix aus Distanz-, Wechsel- und Präsenzunterricht ihre Abi-Klausuren schreiben müssen.
Ich weiß, dass es ihnen zunehmend schwerer fällt, die Welt, das Leben und das Universum im Großen und Ganzen für einen guten Kerl zu halten. Für viele Kinder und Jugendliche fühlen sich die Tage nicht mehr gut an. Stattdessen sagen sie: „Mist!“. Und haben damit recht. Genauso, wie all die Anderen.
Aber von den Jungen will ich besonders reden. Damit wir „Großen“ und „Erwachsenen“ sie nicht aus dem Blick verlieren. Damit wir uns gemeinsam durch diese Zeit (er)tragen. Und damit keiner mehr sagt: „Nun stell dich mal nicht so an. Dir geht’s doch gut.“

Öffne deinen Mund, …

Das will ich tun. Auch, damit uns der Eine nicht vergisst, der uns alle, jung wie alt, in seinen Händen hält. Auf dass er es hört, wenn auch nur eine oder einer sorgenvoll und norddeutsch wortkarg betet: „Mist!“

Zeichnung vom Mäusepastor

Ihr Pastor

René Enzenauer

nach oben


April 2021

Liebe Wohltorfer, liebe Krabbenkamper,

Foto: Pastor Enzenauer

„Am Karfreitag hältst du deinen ersten Gottesdienst.“ Das sagte der Pastor zu mir, bei dem ich meine Vikariatsausbildung machte. Und er fügte an: „Am Karfreitag kann man gut predigen, denn deine Hörer können leicht an das anknüpfen, was du sagen wirst.“ Er meinte damit,  dass Unrecht und Ungerechtigkeit, Leid, Hilfl osigkeit und die Erfahrung, jemanden an den Tod zu verlieren, Dinge sind, die alle kennen.
Von Ostern zu reden, oder vom Weg, der von der Passion und vom Leiden zur Auferstehung führt, das ist viel schwieriger, besonders dann, wenn das Osterwunder ohne es zu zerreden so erzählt werden soll, dass es die Menschen berührt. Denn wie erzählt man von einem Mysterium?! Ich weiß es bis heute nicht. Versuchen will ich es trotzdem. Vielleicht geht es ja so:
Im September 1970 war Paul Simon zu Gast in einer Fernsehshow. Er war der Songschreiber und einer der beiden Sänger von Simon & Garfunkel. Das Duo war mit Hits wie Mrs. Robinson und Sound of Silence berühmt geworden. Nun hatten sie einen nächsten Song produziert, der die Charts stürmte: Bridge over Troubled Water. Und so saß Paul Simon beinahe verschämt, mit schüchternem Blick und Pagen-Frisur auf dem roten Polsterstuhl im Fernsehstudio und
ließ sich interviewen.
Nach ein wenig einleitender Konversation, die schon ahnen ließ, dass das Gespräch eher tiefgründig und zerbrechlich als überschwänglich locker verlaufen würde, fragte der Moderator nach dem neuen Hit. Das an sich wäre nichts Besonderes. Aber die Art wie er fragte, ist bemerkenswert. Er sagte: „Es gab eine Zeit auf der Welt, da gab es das Lied nicht. Und auf einmal war es da. Woher kam es? Was ist passiert?“

Es gab eine Zeit, da gab es Ostern nicht. Und auf einmal war es da. Was ist passiert?
Paul Simon griff sich seine Gitarre und versuchte zu erklären. Er spielte ein paar Akkorde und fing mit leiser Stimme an zu erzählen.
Er erzählte davon, wie er vor sich hin probierte bis eine kleine Melodie auftauchte. Dann sang er diese Melodie. Und das, was er sang, waren die ersten vier Takte von O Haupt voll Blut und Wunden. Das ist ein Passionslied, das Johann Sebastian Bach als Choral in seine Matthäuspassion aufgenommen hatte und das in sehr eindringlichen Worten über das Leiden und Sterben Jesu meditiert. Das also war der Anfang, aus dem etwas Neues wurde!

Der Anfang war Passion, das Leiden.
1969, als Paul Simon das Lied schrieb, lagen die Morde an John F. Kennedy und Martin Luther King noch nicht lange zurück. In Vietnam tobte der Krieg. Und die Stimmung in den USA war wegen der Rassenkonfl ikte angespannt. Das Land steckte fest: in Gewalt und in einer Spaltung der Bevölkerung und es suchte verzweifelt nach Wegen, die aus dieser Lage herausführten. Und auch Paul Simon, der Liederschreiber, sagte: „I was stuck – Ich steckte fest.“ Und als der Moderator nachfragte, was das denn bedeute, antwortete er: „Überall, wohin ich ging, wollte ich nicht sein.“
Genau so ist das Leben manchmal. Du steckst fest und suchst nach einem Ausweg. Doch egal, wohin du gehst: Es geht nicht weiter, wird nicht besser, wird nicht anders. Da ist nur Passion, hilflos, verzweifelt und leidend.

I was stuck – Ich steckte fest.
„Und dann?“, fragte der Moderator. Und Paul Simon sagte: „Dann weiß ich auch nicht, was genau passierte. Ich hörte eine Zeit lang immer wieder eine Gospel-Platte, bis ich sie auswendig kannte. Und irgendwann hörte ich dabei die Worte: I’ll be a bridge over deep water if you trust in my name – Ich werde die Brücke sein, die über tiefes Wasser führt, wenn du an mich glaubst. Und dann war alles da, die Musik und die Worte. Alles war da. Danach ging es weiter…

Danach ging es weiter. Das ist Ostern.
Es ging weiter mit Trost-Worten und mit einer Hoffnung. Und Paul Simon dichtete und sang: „Wenn du müde bist, dich klein fühlst, und wenn Tränen in deinen Augen sind, dann werde ich sie alle trocknen. Ich bin auf deiner Seite. Wenn die Zeiten hart werden und wenn Freunde einfach nicht zu finden sind, dann werde ich mich wie eine Brücke über tosendes Wasser legen. …
Eine Brücke über tosendes Wasser … vielleicht ist genau das passiert, an Ostern.

Ihr Pastor

René Enzenauer

nach oben


März 2021

Liebe Wohltorfer, liebe Krabbenkamper,

Foto: Pastor Enzenauer

Corona.
Freunde nicht sehen.
Kein sozialer Kontakt.
Keine Sport-Aktivitäten.
Homeschooling.
Videokonferenzen.

Das haben unsere Konfis geschrieben als wir sie fragten, was sie im Moment so richtig blöd finden. Als wir darüber sprachen, war deutlich zu spüren, dass die Zeit, wie sie im Moment ist, auch für Jugendliche zunehmend schwieriger wird. Einige erzählten davon, dass ihr Tag-Nacht-Rhythmus durcheinander geraten ist. Hinzu kommt, dass der Wochenplan neben Homeschooling und Hausaufgaben nur wenig Abwechslung bringt. „Es passiert ja nichts Aufregendes oder Neues mehr.“, sagten sie. Alles plätschert so dahin. Das Schlimmste aber ist, dass man seine Freunde nicht mehr sehen kann. Und wenn, dann nur einzelne. So langsam geht die Stimmungskurve steil nach unten. Nun kann man sagen: Das ist Jammern auf hohem Niveau. Man kann auch sagen: Das ist doch alles nicht so wild. Anderen geht es noch viel schlechter. Wir sind gesund. Wir haben hier so viel Platz um uns herum. Können raus, spazieren, wohnen oft in großen Häusern. Wie muss das erst in einer kleinen Wohnung in der Stadt sein usw.

Aber mit der dunklen Stimmung sind unsere Konfirmandinnen und Konfirmanden nicht allein. Ob Jugendlicher, Mittelalter oder Senior, es ist egal, mit wem man spricht: Es ist nicht leicht auszuhalten im Moment. Und außerdem: Leid ist nicht vergleichbar. An dem Satz: „Jeder hat sein eigenes Schlimm.“, ist etwas Wahres dran. Was also tun?

Wir haben mit unseren Konfis ein Gedankenexperiment gewagt. Wenn im Moment so viel so „doof“ ist, so schwer zu ertragen und so anstrengend und niemand weiß so richtig, wann es endlich besser wird, sollte Gott sich da nicht überlegen, einfach den Stecker aus der Welt zu ziehen? Einfach abschalten oder zerstören. So ähnlich wie damals bei Sodom und Gomorra. Die Bibel erzählt, dass es in diesen Städten damals auch nur Übles und Unheil gab, sodass Gott entschied, diese Orte auszulöschen. Warum also nicht jetzt das Gleiche tun? Oder gibt es doch noch gute Gründe, die Welt „am Leben zu lassen?“

Und so haben wir die Konfis gebeten, Gott eine Email zu schreiben, mit Gründen, warum es trotz allem gut ist, dass es die Welt gibt, wie sie ist. Zwei dieser Emails lauten so:


Lieber Gott,

Ich weiß das Leben ist im Moment schwer und man denkt es gibt keine Gründe mehr die Welt in Ruhe zu lassen. Nur bitte denke darüber nochmal nach. Denke an die Familien, die sich Freitag abends zusammen setzen, um einen Film zu sehen. Sie bestellen sich Essen bei dem Italiener um die Ecke und lachen zusammen. Denke an Weihnachten und an die Freude, die sich auf den Gesichtern der Familie befindet, wenn sie sich in die Arme fallen. Denke an die Natur, die allen so viel Schönes gibt. Alle Spaziergänge im Wald und an die schönen Berge oder Seen, die es auf der Welt gibt. Und bitte denke an die Musik und die Freude, die man fühlt. Musik, die in jedem Erinnerungen hervorbringt, wenn sie im Radio läuft oder wenn sie jemand leise vor sich hin summt. Es gibt so viel Schönes und so viel Freude auf der Welt, auch wenn es nicht immer so aussieht. Bitte zerstöre das alles nicht.

Liebe Grüße, Emilia Baumann


Lieber Gott,

Die aktuelle Lage ist ja nicht ganz einfach, für uns Menschen nicht und für dich schon gar nicht, du als Erschaffer von alledem. Aber ich bitte dich, (und das mit Sicherheit im Namen aller) hab Vertrauen. Hab Vertrauen darin, dass alles besser wird und gib uns jetzt nicht auf. Denn gerade jetzt, wo es so vielen Menschen schlecht geht, so viele voller Trauer sind und noch mehr die Hoffnung verloren haben, gerade jetzt brauchen wir dich. Also schenke denen die sie verloren haben neue Hoffnung, den Kranken nimm den Schmerz und den Trauernden das Leid. Und hab Vertrauen in die Menschen, so wie sie vertrauen in dich schenken. Denn ganz gleich wie schlimm das alles auch scheinen mag, so glaube ich doch fest daran, dass alles eines Tages wieder gut wird. Vielleicht wird sich manches verändern und vielleicht werden wir alle eine neue Definition davon haben was “alles gut“ bedeutet. Aber kein Leid ist unheilbar und keine Situation unbesiegbar! Es ist nur eine neue Herausforderung, die es zu besiegen gilt.

Lola Kohlhaas


Ihr Pastor

René Enzenauer

nach oben


Februar 2021

Liebe Wohltorfer, liebe Krabbenkamper,

Foto: Pastor Enzenauer

Ich weiß es noch genau, so sehr hat es sich in mein Gedächtnis eingebrannt. Es war immer am Dienstag und am Donnerstag, jeweils in der siebten und achten Stunde. Wenn die meisten Schüler meiner damaligen Schule schon auf dem Weg nach Hause waren, wo nach den Hausaufgaben so wunderbare Dinge wie Musikhören oder „Abhängen“ mit Freunden auf sie warteten, immer dann hatte meine Klasse noch zwei Stunden Sport. Und das war schlimm.

Erst sich Umziehen in nach Keller und Pubertät riechenden fensterlosen Räumen, dann sogenanntes „Aufwärmen“, das in der Regel aus Im-Kreis-Laufen bestand, bevor dann die Überraschung der Stunde kam, nämlich die Information darüber, bei welcher Art der Leibesertüchtigung man sich als nächstes versuchen durfte: Hochsprung, Kugelstoßen oder vielleicht doch das Reck? Das alles gefiel mir nicht. Gesteigert werden konnte mein Unbehagen nur noch durch ein weiteres „Instrument“, nämlich durch: die Liste.

Es war die Liste, auf der alle unsere Namen verzeichnet waren. Alphabetisch sortiert, mit kleinen Kästchen dahinter. Wann immer sie auftauchte, wurde man der Reihe nach aufgerufen und durfte dann über eine Stange springen, eine Kugel möglichst weit stoßen oder einen Hüftaufschwung machen und wurde dafür bewertet. So füllten sich die Kästchen hinter den Namen mit Zensuren.

Ich mochte dieses Namens-Zensuren-Verzeichnis nicht. Mein Name, also letztlich ich, wurde mit einer Leistung verbunden, die in den Bereich von „höher – schneller – weiter“ fiel und das war ein Bereich, der mir nun mal nicht lag. So sorgte der Sportunterricht besonders in Kombination mit dieser Liste bei mir regelmäßig für Frustration. Es half mir wenig, dass es so ein Leistungsverzeichnis natürlich auch in anderen Fächern wie etwa Musik, Deutsch oder Mathe gab, wo wesentlich bessere Zahlen in den kleinen Kästchen hinter meinem Namen standen.

Heute weiß ich: Das Leben ist voll von solchen Leistungsverzeichnissen. In meinem Leben nach der Schule gab es sie bei der Bundeswehr, im Studium, bei der Arbeit an der Uni und im Vikariat. Und eigentlich gibt es sie auch jetzt noch, wo ich schon eine Weile Pastor bin. Sie sind nur subtiler als früher. Ein Ende aber ist nicht in Sicht. So war denn auch einer der ersten Sätze, die ich hörte, als ich nach Wohltorf kam: „Hier zählt Leistung.“ Diesen Satz habe ich genauso wenig vergessen wie den Schulsport. Allerdings weiß ich auch noch, was ich damals geantwortet habe. Ich sagte, dass es dann doch erfrischend wäre, wenn die Kirche und wir als Gemeinde mit unserer Haltung ein Gegenentwurf dazu sein könnten.

Im Lukasevangelium gibt es dazu nämlich eine schöne Geschichte: Jesus schickt eine Reihe von Menschen ins Land, um Kranke zu heilen und Dämonen auszutreiben. Als sie wieder zurückkommen, sind sie berauscht von ihren Erfahrungen, freuen sich über ihre vollbrachten Wunder und vor allem darüber, dass ihnen sogar die Dämonen gehorchen. Darauf antwortet Jesus trocken:

Doch darüber freut euch nicht, dass euch die Geister untertan sind. Freut euch aber darüber, dass eure Namen im Himmel verzeichnet sind. (Lk 10,20)

Es geht letztlich eben nicht um die „Wunder“, die Du vollbringst, nicht um das, was Du leistest oder kannst. Sondern es geht um Dich. Es geht um Dich und deinen Namen, den der Eine auf dem Zettel hat, der dich ohnehin auch mit deinen Schwächen kennt und der nicht auf das schaut, was Du leistest, damit Du liebenswert und wertvoll bist. Zumal viel von dem, was Du kannst, wohl ohnehin eine Gabe ist, die man zwar fördern, aber nicht herstellen kann, eine Gabe wie sportlich oder musikalisch sein.

Ich weiß nicht, ob mir dieser Gedanke damals in der Schule gegen meine Frustration geholfen hätte. Aber das macht ihn nicht weniger wahr. Außerdem bin ich inzwischen älter und erfahrener und in winzigen Momenten vielleicht sogar ein bisschen weise. 😉

Übrigens: Jetzt, wo ich keinen Leistungsnachweis mehr erbringen muss, macht mir Sport manchmal tatsächlich Spaß …

Ihr Pastor

René Enzenauer

nach oben


Januar 2021

Liebe Wohltorfer, liebe Krabbenkamper,

Foto: Pastor EnzenauerViele sagen: „Wer wird uns Gutes sehen lassen?“ Herr, lass leuchten über uns das Licht deines Antlitzes. Psalm 4,7

Das neue Jahr hat angefangen, aber ich bin noch müde vom alten. Das schreibe ich ganz ehrlich. Weil es so ist. 2020 war kein gutes Jahr, finde ich und ich bin müde davon. Und ich weiß aus Gesprächen, dass es vielen anderen – vom Konfi rmanden bis zur Seniorin – auch so geht.

„Jeden Tag gab es wahlweise Corona- oder Trump-Schlagzeilen und wenn es die nicht waren, dann waren es welche über Anti-Corona-maßnahmen-Demos, selbst ernannte WiderstandskämpferInnen wie Jana aus Kassel oder einen abwegigen veganen Kochbuchautor. Das Ganze garniert mit Inzidenzwerten und Ansteckungszahlen in bunten Grafiken. Gefühlt jeden Tag guckte man der Welt beim Verrücktwerden zu.

Und sonst? Das Übliche: Pläne machen, Pläne verwerfen, neue Pläne machen, dann wieder abwarten, gar keine Pläne machen können und dafür „gucken müssen, was passiert“, dann wieder Hygienekonzepte schreiben (für jede Veranstaltung eines), frustriert darüber sein, dass man für die Logistik und Organisation einer Veranstaltung mehr Zeit investieren muss als für die eigentlichen Inhalte usw. usw. Ganz zu schweigen davon, selbst unsicher zu sein und doch Sicherheit ausstrahlen zu sollen.
Und dabei geht es mir noch gut. Andere waren und sind von Corona & Co. noch viel schlimmer und auch existentieller betroffen als ich. Das weiß ich. Und trotzdem sage ich für mich:

2020 war kein gutes Jahr. Wenn es einen Geruch hätte, dann den von Desinfektionsmittel. Wenn es eine Farbe hätte, dann Mund-Nasen-Schutz-Blau. Und wenn es ein Roman wäre, dann wäre es ein Schauerroman.

So ähnlich redeten wir im Dezember in ruhiger Stunde am Tisch des Hauses. Und dann sagte einer: So stimmt das nicht. Du musst auch von Gutem reden!

Und dann machten wir eine Liste. Wir wollten zehn gute Dinge finden, die in den letzten Tagen passiert waren.

Viele sagen:
„Wer wird uns Gutes sehen lassen?“ …

In fünf Minuten war die Liste fertig. Sie hatte elf Punkte. Darunter waren:

  • Gestern gab es eine großartige Konfi-Stunde zum Thema: Was wird mal im Jenseits sein?
  • Unsere Gemeinde war dreimal im Radio, wegen der Weihnachtsgottesdienste mit dem Trecker und wegen des musikalischen Adventskalenders von Frau Wiese und der Kantorei.
  • In den letzten Wochen war unsere Kirche jeden Sonntag zum Gottesdienst bis auf den letzten möglichen Platz gefüllt. Das sind zwischen 60 und 70 Menschen.
  • Wir haben ein großartiges Küsterteam, das mehr mitarbeitet als sonst, damit wir diese Gottesdienste feiern können.
  • Die Anmeldungen für unsere Veranstaltungen laufen wunderbar, auch weil es engagierte Hände gibt, die viel im Hintergrund organisieren.
  • Unser Projekt mit den Jugendbauwagen geht voran und findet großen Anklang bei Jugendlichen, Helfern und Spendern.

  • Und: Es gibt Impfstoffe.

Viele sagen: „Wer wird uns Gutes sehen lassen?“ Herr, lass leuchten über uns das Licht deines Antlitzes. Psalm 4,7

Unsere Liste sorgte an diesem Abend für bessere Stimmung. Manchmal braucht es eben einen, der den Blick lenkt: von dem, was schwer auf der Seele liegt hin zu dem, was sie glücklich oder doch zumindest froh macht. Manchmal muss man das Dunkle beim Namen nennen dürfen, um dann doch darin auch die Lichtblicke zu finden, in denen Gott uns entgegenleuchtet.

Und manchmal braucht es das Gebet: Lass dein Licht leuchten, Gott, und schau auf uns – wenn wir mal müde am Tisch sitzen und wenn wir – wie jetzt – starten in ein neues Jahr. Lass du uns Gutes sehen!

Ein gesegnetes Jahr 2021 wünscht Ihnen,

Pastor René Enzenauer

nach oben