Gemeindebriefe 2024

Liebe Wohltorfer,
liebe Krabbenkamper,

so oder so ähnlich beginnen die Gemeindebriefe.

Hier finden Sie die Gemeindebriefe 01/2024, 02/2024, 03/2024, 04/2024, 05/2024

Auch die alten Briefe können Sie noch einmal lesen. Ab Dezember 2003 bis Dezember 2016 in unserem alten Web-Auftritt und außerdem in der aktuellen Form die Gemeindebriefe 2017, 2018, 2019, 2020, 2021, 2022, 2023


Mai 2024

Foto: Pastor EnzenauerVon Burgen und anderen Zufluchten

Ein feste Burg ist unser Gott! Dachte ich und sang es nicht, als ich den steilen Hügel hinaufging. Zum Singen fehlte mir der ruhig geführte Atem. Ich bin nicht auf Wanderungen im Bergland trainiert. Ich bin Bewohner des Norddeutschen Tieflands und schätze den unverstellten Blick in die Weite bis zum Horizont, hinter dem es immer weiter geht. Jetzt aber war ich im Urlaub in den Vogesen und hatte mich zu einem „Spaziergang“ überreden lassen. Anfangs schlenderten wir durch noch sanft ansteigende Weinberge, in denen der Pinot Gris gerade aus dem Winterschlaf erwachte. Die Sonne beschien den Wein und uns. Auf den Steinen am Wegesrand wärmten sich die Eidechsen und ein Falke stand rüttelnd in der Luft. Wir ahnten den Sommer, als wir am Ziel unseres Ausflugs ankamen: ein Kirchlein, das dem Heiligen Sebastian geweiht ist. Als Schutzheiliger ist Sebastian für zahlreiche Berufe zuständig, vom Eisenhändler bis zum Leichenträger. Sein Hauptaugenmerk gilt aber den Pestkranken. Auch das Weinberg-Kirchlein war seiner Zeit ein dafür vorgesehener Zufluchtsort. Hierher kamen Menschen, um für Heilung oder Schutz zu beten. Ich stelle mir vor, wie sie in den pestverseuchten Sommern an dem Seitenaltar in der kühlen Kirche niederknieten, um neben Bittkerzen zu klagen, deren baumstammdicker Durchmesser der erlebten Not entsprach. Eine feste Burg ist unser Gott! Das sangen die Menschen dort nicht, aber vielleicht hofften sie trotzdem darauf: auf einen Gott, der trutzig den Gefahren trotzt und in den man sich verkriechen kann, wenn es gar nicht anders geht. Manchmal braucht man das. Ob der Heilige geholfen hat? Die Pest ist zumindest in unseren Breiten vorbei. Auch die dicken Bittkerzen werden nicht mehr angezündet. Sie sind hinter Info-Stellwänden verstellt. Und in einer Ecke hängt ein babyblauer Rosenkranz aus Plastikperlen an der Wand, an dem das Kreuz fehlt. Er wird wohl auch nicht mehr gebetet. Aber ich weiß: Die dicken Bitten gibt es immer noch. Nur anders und vielleicht auch eher anderswo. Und den Wunsch nach einer Zuflucht ab und zu, den auch …
So dachte ich, als wir wieder hinaus in die Sonne traten, durchatmeten und beschlossen, den Wanderschildern zu gehorchen, die sagen, dass man nach einer halben Stunde Fußmarsch an einer Burgruine ankommt. Da ist sie wieder, die Burg. Das Elsass ist voll davon. Die Bibel auch: Du bist mein Fels und meine Burg, Psalm 31. Oder auch: Der Name des Herrn ist eine feste Burg; der Gerechte läuft dorthin und wird beschirmt. Sprüche 18. Na dann los. Wir liefen den Berg hoch. Es war steil und ganz und gar anstrengend. Aber so ist das, wenn man eine Zuflucht aufsucht. Das ist kein Spaziergang. Die Burg steht auf einem Felsvorsprung. Der Ausblick ist schön. Vor uns Wald, Wein und Dörfer. Ganz hinten, etwas verhangen, der Schwarzwald. Dann bestiegen wir den Bergfried. Und das war schlimm. Nicht wegen der Höhe des Turms, sondern weil es so dunkel war. Die Treppe verlief in einem engen Schacht, von meterdicken Wänden umgeben. Licht gab es nur auf einer Zwischenetage, in der die Erbauer eine winzige „Schießscharte“ gelassen hatten. Ansonsten war es finster. Das war der sicherste Teil der Burg. Hierhin zog man sich zurück, wenn die Feinde vor der Haustür standen. Hier war man „drinnen“. Die Welt war draußen. Mit ihren Bedrohungen. Aber auch mit ihrem Licht und mit ihrer Schönheit. Ich tappte im Engen und Dunklen. Man kann in dieser Welt eben nicht beides haben. Wer in der Welt unterwegs ist, macht sich angreifbar. Und wer sich schützt, muss das Schöne opfern, sinnierte ich, trat wieder ins Freie und suchte Zuflucht in dem weiten Raum, auf den Gott meine Füße stellt. (Psalm 31)

Ihr
René Enzenauer

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April 2024

Foto: Pastor Enzenauer

„Öfter mal was Neues, weil: Wer rastet, der rostet und wer nicht wagt, der nicht gewinnt.“

So dachte ich vielleicht, als ich mich dafür entschied, etwas zu tun, was ich noch nie getan hatte: Ich sagte nämlich „Ja, ich will.“, als man mich fragte, ob ich mündliche Prüfungen im zweiten Theologischen Examen abnehmen würde. Und plötzlich saß ich in einem beigefarbenen Raum im Landeskirchenamt, wo ich mich mit zukünftigen Kolleg*innen über Themen rund um die Predigt und den Gottesdienst unterhalten durfte.
Mit dieser Aufgabe betrat ich unbekanntes Land. Noch nie hatte ich irgendjemanden in irgendetwas geprüft. Prüfungen kannte ich bisher nur von der einsamen Seite des Tisches aus, also von dort, wo man allein sitzt und die Fragen der Prüfungskommission beantwortet, die wie ein Wächtergremium darüber entscheidet, ob man „weiterkommt“, oder nicht. Nun also war alles andersrum.
Das war eine schöne Erfahrung, nicht, weil ich einmal „Wächter spielen“, sondern weil ich einen wunderbaren Moment erleben durfte: Ich traf auf einen künftigen Pastor, der im Prüfungsgespräch mit leuchtenden Augen von seinen Erfahrungen mit Trauungen erzählte. Wir redeten über die Theologie der Trauung und darüber, dass kirchliche Ansprüche an das Paar wie die Kirchenmitgliedschaft, der Musikgeschmack oder das „richtige“ Geschlecht der Eheleute nicht immer und immer seltener den Lebensrealitäten der Menschen entsprechen. So kamen wir zur Theologie des Segens. Und plötzlich fiel der Satz des Tages. Mein Gegenüber sagte nämlich:
„Der Segen ist barrierefrei.“

Dann war die Prüfungszeit vorbei, aber das Nachdenken nicht. Ich dachte an Abraham, den Gott in ein unbekanntes Land schickte und dem Gott dazu einen Reisesegen mit auf den Weg gab: „Ich will dich segnen und dir einen großen Namen machen.“ (1. Mose 12,2). Ohne eingehende, vorangegangene Prüfung, sondern einfach so. Barrierefrei. Und Abraham zog los und aus dem Segen wurde die Geschichte eines Lebens und eines Volkes.
Ich dachte an die Leute, die Kinder zu Jesus brachten, „damit er sie anrühre“ und an die „Wächter-Jünger“, die die Kinder am Weiterkommen hindern wollten. Ich dachte an „Lasset die Kinder zu mir kommen“ und daran, wie Jesus ihnen die Hände auflegte und sie segnete. (Mk 10,16). Ganz ohne Konfirmandenunterricht und ohne vorangegangenes Bekenntnis. Sondern einfach so. Barrierefrei. Und ich bin mir sicher, aus diesem Segen wurde Leben.
Ich dachte an die Mutter, die mir bei einem Taufgespräch gegenüber saß und die sagte: „Ganz ehrlich? Ich hatte Angst vor diesem Gespräch. Ich habe keine Erfahrungen mit Kirche.“ Deutlicher kann man die Sorge, kirchlichen Ansprüchen nicht zu genügen, nicht ausdrücken. Ich dachte an den Konfirmanden, der am Ende des Konfikurses „Nein, ich möchte nicht.“ zur Konfirmation sagte, der aber dann hinzufügte: „Aber ich möchte einen Segen bekommen.“ Ich dachte an Jakob, der mit Gott oder einem Engel rang und sagte: „Ich lasse dich erst los, wenn du mich gesegnet hast.“ (1. Mose 32,27)

Der Segen ist barrierefrei.
Ich weiß, dass dieser Satz längst nicht alles ist, was man über den Segen sagen kann. Man könnte auch hinterfragen, ob er in seiner Einfachheit wahr ist. Mir ist auch bewusst, dass es immer auch gute theologische Gründe für bestimmte „Regeln“ gibt. Beliebigkeit ist keine Option. In einer pluralen Gesellschaft erkennbar für etwas zu stehen, ist sicher notwendiger denn je. Nicht nur für die Kirche.
Aber wir sind nicht in die Welt geschickt, um Gottes Segen zu bewachen, sondern um Segen zu schenken und Segen zu sein. Also bringen wir ihn doch lieber gemeinsam als Kirche verschwenderisch unter die Leute. Indem wir gelegentlich tun, was wir noch nie getan haben, indem wir öfter als bisher Neues wagen. Wider den angesetzten Rost. Und so Gott will, wird daraus neues Leben.

Frohe Ostern

Ihr
René Enzenauer

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März 2024

Foto: Pastor Enzenauer

Ja weil er sowas doch noch nie gemacht hat bis jetzt daß er sein Frühstück ans Bett haben will mit zwei Eiern seit dem City Arms Hotel wo er immer so tat wie wenn er wegen seiner kranken Stimme das Bett hüten müßte und den feinen Lackaffen spielte alles bloß um sich bei der alten Ziege interessant zu machen Mrs Riordan von der er dachte er hätte einen dicken Stein im Brett bei ihr und dabei hat sie uns keinen roten Heller hinterlassen alles für Messen weg für sie selber und ihre blöde Seele also sowas von Geizkragen das gibts nicht nochmal wieder wie die sich gesträubt hat …*

Diese Worte hat James Joyce geschrieben, einer meiner Helden. Sie eröffnen das 18. Kapitel seines Buches „Ulysses“. Aber keine Sorge, ich habe den Ulysses noch nicht komplett gelesen. Zu lange hält man dieses Buch nicht aus. Aber es fasziniert mich. Das 18. Kapitel zum Beispiel ist in meiner Ausgabe 73 Seiten lang. Aber es besteht aus nur acht Sätzen, die – von den acht Punkten am Ende eines Satzes abgesehen – ansonsten ohne Interpunktion geschrieben sind.
Letzteres muss so sein. Denn es geht um Molly, die nicht schlafen kann. Sie liegt nachts in ihrem Bett und alle Erlebnisse des Tages kreisen in ihrem Kopf und setzen dabei Erinnerungen und wilde Assoziationen frei. Sie denkt an ihre Kindheit, an ihre Kinder, an ihre Jugend, an prickelnde Momente, an Mrs Riordan, die alte Ziege, die nur an ihre blöde Seele denkt, und an vieles mehr. Ein Strom von Gedanken „ohne Punkt und Komma“, Gerede einer inneren Stimme. Kaum auszuhalten. Faszinierend.
In letzter Zeit begegnete mir diese „innere Stimme“ häufiger. Zum Beispiel auf Social Media, wo mir neuerdings ein Strom von Videos von „Life-Coaches“ vorgeschlagen wird, die mir empfehlen, mehr auf meine innere Stimme zu hören, um ein besserer und erfolgreicherer Mensch zu werden.
Wenn diese Videomenschen wüssten, was meine innere Stimme angelegentlich daherredet, bin ich mir nicht sicher, ob sie bei ihrer Strategie für ein gelingendes Leben bleiben würden. Denn ich kenne diese Molly-Nächte auch, in denen ich nicht schlafen kann, in denen sich der vergangene Tag in seiner Gewalt und mit seinen Abgründen noch einmal vor mir auftut und in denen diverse „Ziegen“ und anderes, wenig schmeichelhaftes Getier auftauchen, die sich an den ausgelaugten Weiden meiner Gedanken gütlich tun wollen. Ich bezweifle, dass mein Leben besser würde, wenn ich darauf hörte, was die damit verbundene „innere Stimme“ redet. Aber leider lässt sich deren Geplapper nur schwer ausschalten.
Das gleiche erzählen mir auch Andere, nach meiner Wahrnehmung in letzter Zeit mehr als sonst: viele Menschen mit vielen schlaflosen Nächten, viele Gedanken, die unablässig kreisen, Sorgen um das Heute und das Morgen und innere Stimmen, die „Was hast Du nur gemacht?“ flüstern oder mit einem abfälligen „War ja klar!“ und kaum erfüllbaren ToDo-Listen die Nachtruhe stören.
Ich wünschte, ich hätte ein kluges Rezept dagegen. Habe ich aber nicht. Tut mir leid. Ich habe nur Molly aus dem 18. Kapitel. Und Psalm 121.
Molly lässt ihre Gedanken einfach immer weiter kreisen, solange bis sie sich daran erinnert, wie ihr Mann ihr damals seinen Heiratsantrag machte:

… und das Herz ging ihm wie verrückt
und ich hab ja gesagt ja ich will Ja.

Damit endet das Buch. Molly wurde ruhig. Vielleicht schlief sie ein, neben ihrem Mann. Mit etwas Schönem am Ende des Gedankenwirrwarrs – und mit dem Gefühl, nicht allein zu sein, vielleicht so wie es der Psalm sagt:

Er wird deinen Fuß nicht gleiten lassen,
und der dich behütet schläft (auch) nicht.

Ihr Pastor
René Enzenauer

*James Joyce, Ulysses. Übersetzt von Hans Wollschläger. 4. Auflage, Suhrkamp, 2014.

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Februar 2024

Was man nicht sagt

Foto: Pastor Enzenauer

Es gibt Dinge, die einem unzweifelhaft deutlich machen, dass man älter wird. Da wäre der Körper, dieses irdische Gefäß, mit seinen über die Jahre angehäuften Dellen und Beulen. Da wären ernsthafte
Überlegungen zum Schlafengehen – am Samstagabend um halb zehn – statt zum auf den Kiez-Gehen wie früher. Und da wäre das Wort „früher“, von dem man sich früher geschworen hatte, es niemals zu benutzen, das sich nun aber immer öfter in den aktiven Wortschatz schleicht.

Ich ertappte mich dabei, wie ich neulich dachte: „Früher habe ich noch gelernt, dass man so etwas nicht sagt.“ Umrahmt wurde dieser Satz von Erinnerungen an Geburtstagsgeschenke und an Streitereien. Bei derartigen Anlässen musste ich lernen, dass es zwei Arten von gesprochenen Dingen gibt, nämlich Dinge, die man sagt und Dinge, die man nicht sagt. Zu den ersten gehören „Bitte.“ und „Danke.“, „Darf ich …“ und „Ich möchte …“. Zu den Formulierungen der zweiten Kategorie gehören Sätze, die mit „Ich will …“ anfangen, Schimpfworte, oder die Verwendung des Demonstrativ- statt des Personalpronomens: Man sagt nicht „die da“, wenn man eine Person meint. Man sagt „sie“.
Ich weiß noch, dass ich diese Regeln als Kind sehr anstrengend fand. Und auch heute als Erwachsener lässt sich eine gewisse Provokation nicht leugnen, wenn einem jemand vorschreibt, man könne etwas nicht so sagen, wie man es gerade getan hat. Dann fühlt man die Halsschlagader pochen und man bekommt nicht übel Lust auf eine sinnlose „Das wird man ja wohl noch sagen dürfen!“- Diskussion. Oder man empört sich nicht minder albern über die sogenannte „Sprachpolizei“, die angeblich hinter jedem Wort lauert.

Dennoch denke ich, dass es Grenzen des Sagbaren gibt und auch geben muss, allerdings nicht apodiktisch, nicht einfach „weil man etwas nicht sagt“, so als würde einem eine autoritäre Macht einen Wortschatz vorschreiben, sondern aus der Überlegung heraus, dass Worte Wirklichkeit erschaffen. Worte zwischen Menschen gestalten Beziehungen zwischen Menschen. Und ich selbst bin es, der es zumindest teilweise in der Hand hat, wie diese Beziehungen aussehen – je nachdem, welche ich Grenzen ich mir und meinen Worten setze.

Es ist ein Unterschied, ob Konfirmandin A während der Konfifreizeit mit dem Finger auf Konfirmandin B zeigt und sagt „Die da hat dies und das gemacht.“, oder ob Konfirmandin A den Namen von Konfirmandin B benutzt. Es ist ein Unterschied, ob man vom Verkäufer ein genervtes „Moment!“ hört, oder ein „Ich bin gleich für Sie da!“ Und es ist ein Unterschied, ob das, was man sagt, Ergebnis eines qualifizierten Nachdenkens ist oder nur eine unmaßgebliche Meinung.

So erzählt man sich, wie der Starregisseur Christopher Nolan unlängst zu Hause auf seinem Heimtrainingsfahrrad strampelte und sich dabei ein Trainingsvideo ansah, als die Trainerin im Video plötzlich anfing, über einen seiner Filme herzuziehen: „Hat den jemand gesehen? Das sind ein paar Stunden meines Lebens, die ich nie wieder zurückbekomme.“, soll sie gesagt haben. Später, als die Geschichte öffentlich wurde, hat sie sich dafür (ein wenig) entschuldigt: „Es war 2020. Es war eine dunkle Zeit. Ich trainierte mit meinem Kurs und redete mir den Mund fusselig, so wie ich es nun mal zu tun pflege. Dann machte ich eine zufällige Bemerkung über einen Film, den ich am Abend zuvor gesehen hatte. Wie groß ist die Wahrscheinlichkeit, dass der Regisseur dieses Films diesen Kurs vier Jahre später absolviert? Das kann nur mir passieren.“ So ist das mit zufälligen Bemerkungen. Sie sind wie das Alter: Auch sie hinterlassen Dellen und Beulen. Oder wie die Bibel sagt:

Wer unvorsichtig
herausfährt mit Worten,
sticht wie ein Schwert;
aber die Zunge der Weisen
bringt Heilung.
(Sprüche 12,18)

Ob wir das eine tun oder das andere, schwertartig stechen oder weise heilen, ist unsere Entscheidung.

Ihr Pastor
René Enzenauer

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Januar 2024

Liebe Wohltorfer, liebe Krabbenkamper,

Foto: Pastor Enzenauer

Es gibt Situationen, die eigentlich ernst sind oder traurig, aber plötzlich  muss man lachen und kann nichts dagegen tun. Tragikomik nennt man das vielleicht. Auf jeden Fall ist es ein merkwürdiges Dazwischen-Sein, eine Existenz zwischen den Gefühlen.

Es passierte vor der Beerdigung. Wir treffen letzte Absprachen, jemand vom Bestattungsunternehmen und ich. Es geht um das Ende der Trauerfeier: Wann spielt die Musik Wann öffnen sich die Türen? Wann betritt der Bestatter oder die Bestatterin die Kirche, um alles für den Auszug vorzubereiten? Ich erkläre meinem Gegenüber, wie ich es gerne hätte. Die Sache ist komplex. Ich brauche ein wenig für meine Erläuterungen. Als ich fertig bin, schaut mich mein Gegenüber unschlüssig an. Dann fragt es mich: „Was sind Ihre letzten Worte?“ Ich antworte: „Das weiß ich doch jetzt noch nicht!“ Einen Wimpernschlag lang ist Stille. Dann müssen wir beide lachen.

Im Nachhinein finde ich die Frage interessant. Letzten Worten schreibt man gemeinhin eine be- sondere Bedeutung zu. Das, was jemand im Angesicht des Endes gesagt oder geschrieben hat, bewahrt man auf, interpretiert und erzählt es weiter. Vielleicht weil man vermutet, dass in gerade diesen Worten etwas Wichtiges liegt, eine Art Resümee über eine Zeit und über ein Leben, eine besondere Art von Weisheit, die an einer Schwelle entsteht, an der Grenze zwischen zwei Welten – dazwischen eben.
So wird Goethes „Mehr Licht!“ bis heute tradiert und man rätselt, was er damit meinte. Das Licht der Aufklärung, oder mehr Verstand und Geist? Dass seine letzten Worte tatsächlich „Macht doch den zweiten Fensterladen auf, damit mehr Licht hereinkomme.“ waren, ist dabei eher irritierend. Luthers „Wir sind Bettler, das ist wahr!“ klingt da schon anders. Nicht immer sind letzte Worte wirklich staatstragend. Manchmal sind sie einfach menschlich. Über die Schwelle geht jede und jeder auf die eigene Weise.

An einer Art Schwelle stehen wir nun wieder. Es ist Jahreswechsel. Für mich wird diese Schwelle immer am deutlichsten, wenn an Silvester um 0 Uhr das volle Geläut unserer Kirche zu hören ist und rund herum die Raketen bunte Bilder an den Himmel hängen. Dann spüre ich, was die- ses Dazwischen ist. Zwischen Melancholie und Vorfreude, zwischen Erinnerung und Sehnsucht, zwischen Rückblick und Hoffnung, zwischen Vergangenheit, die sichtbar vor uns liegt, und einer Zukunft, die wir noch unsichtbar im Rücken haben. Wir gehen ja rückwärts durch die Zeit.

Ich gebe zu, ich bin in solchen Momenten rührselig. So ist das nun mal, wenn man das alte Jahr zu Grabe trägt. Dann darf man rührselig und melancholisch sein. Und dann geht das Leben weiter. Das Neue fängt ganz von allein an. Nur für einen Moment stehen wir dazwischen, richten einen Stein auf, meißeln 2023 darauf und setzen darunter einen letzten Satz, ein paar letzte Worte, während im Fernsehen der Jahresrückblick läuft. Wie würden sie wohl lauten, diese letzten Worte 2023?

Keine einfache Frage, finde ich. Und recht persönlich noch dazu. Aber vielleicht fällt Ihnen etwas dazu ein. Wenn Sie mögen, dann schreiben Sie es mir. Ich selbst würde wahrscheinlich „Die Pause in der Oper ist besonders interessant.“ auf den Grabstein für das alte Jahr gravieren. Es ist nicht einfach, wie gesagt.

Etwas leichter finde ich es, mir vorzustellen, was ich am Ende von 2024 gerne sagen können möchte. Es müsste gar nicht das biblische „Siehe, es war sehr gut.“ sein. Ein zurückhaltenderes „Trotz allem …“ wäre auch schon in Ordnung. Oder vielleicht ein typisch deutsches Kompliment wie „Gar nicht übel!“ Mehr Ekstase muss es gar nicht sein.

Ob es so kommen wird? Wer weiß das schon. Ich erwähnte es: die Zukunft liegt noch hinter uns. Aber wir werden es herausfinden – getrost. Und von guten Mächten, wunderbar geborgen.

Ihr Pastor
René Enzenauer

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