Liebe Wohltorfer,
liebe Krabbenkamper,
so oder so ähnlich beginnen die Gemeindebriefe.
Auch die alten Briefe ab Dezember 2003 bis Dezember 2016 in unserem alten Web-Auftritt noch einmal lesen. Außerdem die Gemeindebriefe 2017, 2018.
Hier finden Sie die Gemeindebriefe 01/2019, 02/2019, 03/2019, 04/2019, 05/2019, 06/2019, 07/2019, 08/2019, 09/2019, 10/2019, 11/2019, 12/2019
Januar 2019
Liebe Wohltorfer, liebe Krabbenkamper,
die anderen hatten es schon über die Straße geschafft. Wir zwei mussten auf das nächste grüne Ampelmännchen warten. Autos rauschten an uns vorbei. Es war laut. Und es war kalt.
Wir beide standen zusammen an der Straße und redeten nicht viel. Wir hatten uns gerade erst kennengelernt. Kaffeetrinken mit der Familie mit anschließendem Spaziergang. Diese Minuten an der Ampel waren die ersten, in denen wir allein waren. Ich wusste nicht recht, was ich sagen sollte. Aber dann übernahm sie das Reden.
„Soso“, sagte sie, „Du bist also René.“ Ich lächelte. „Ja, genau.“ Sie guckte mich an und dann sagte sie: „Na dann: Ich bin die Hanna.“ Damit war das Eis gebrochen.
Inzwischen ist Hanna 94. In ihrer Küche hängt eine Urkunde von einer Heißluftballonfahrt. Daneben hängen Fotos von einer Reise nach Amerika. Auf dem einen Bild hält sie ein Krokodil. Wenn man sie besucht, bekommt man ein Glas Marmelade geschenkt, selbst gemacht natürlich, aus Früchten aus dem Garten vor dem Haus. Und auf dem Etikett steht: „Für René.“ Aber ihre wohl stärkste Eigenschaft ist ihre Offenheit: Sie verwickelt jeden ins Gespräch, mit dem sie reden möchte. Ob es sich dabei um Professoren, Bürgermeister oder andere Honoratioren handelt, ist egal. Reden kann man doch immer. Hanna interessiert sich einfach, für Menschen und für das Leben.
Manchmal macht sie das nachdenklich: „Über 50 Jahre Frieden. Stell dir das mal vor.“, sagt sie dann und in ihrer Stimme klingt Dankbarkeit … und Sorge. „Über 50 Jahre Frieden. Sowas gab es noch nie.“ Das sagt sie, die ab und zu davon erzählt, wie sie damals in den Straßengraben springen musste, als die Flugzeuge kamen. Sie weiß noch heute, wo die Stelle ist, an der das passierte.
Warum ich von Hanna erzähle? Weil ich an sie denken musste, als ich die Losung für das neue Jahr 2019 gelesen habe.
Suche Frieden und jage ihm nach.
So steht es in Psalm 34. Passender könnte es kaum sein, wenn man bedenkt, was gerade in der Welt passiert. Unversöhnliche Brexitdiskussionen, die Diskussion um den INF-Vertrag, die Gelbwestenproteste in Frankreich, Handelskriege, Stellvertreterkriege wie die in Syrien und im Jemen …
Und dahinein nun: Suche Frieden und jage ihm nach. Ein guter Satz. Und passend in diese Zeit. Nur wie macht man das? Und wie macht man das, wenn der Weg zum Frieden nicht selbst wieder Kampf und Krieg sein soll?
Bei dieser Frage musste ich an Hanna denken. Weil sie in meinen Augen nach diesem Satz lebt. Einfach so. Weil sie so ist, wie sie ist. Weil sie weiß, was Frieden wert ist. Weil sie dankbar dafür ist. Weil sie sich sorgt, dass Frieden bleibt, und weil sie auf ihre Weise in ihrer Welt etwas dafür tut: Weil sie eine ist, die das Eis brechen und offenherzig auf Menschen zugehen kann. Weil sie sich interessiert für andere. Ohne Hintergedanken. Weil Einfluss, Macht und Ruhm ihr schlicht egal sind. Weil sie sich freuen kann. Weil sie sagen kann: „Das reicht mir.“ Weil sie an andere denkt und teilt. Manchmal mit Etikett daran: „Für René.“ Um des Friedens Willen wünschte ich mir mehr von Hanna in der Welt.
Jetzt kann man sagen: Ja, aber … Das löst ja nicht die großen Fragen dieser Zeit in Politik und in Gesellschaft! Das stimmt. Vielleicht nicht sofort und nicht direkt. Aber irgendwo muss man ja anfangen.
Ein friedliches 2019 wünscht
Ihr Pastor
René Enzenauer
Februar 2019
Liebe Wohltorfer, liebe Krabbenkamper,
am Meer rauscht es. Im Garten zwitschert es. Und in der Kirche spielt die Orgel. So ist das, wenn alles so ist, wie es immer ist. Neulich allerdings, da war es anders. Am Meer rauschte es. Und im Garten zwitscherte es. Aber in der Kirche röhrte eine Kettensäge. Nun sind Kettensägen aus gutem Grund eher selten in Kirchen anzutreff en. Aber in diesem Fall ließ sie sich nicht vermeiden. Denn: Weihnachten ist vorbei!
Und so begab es sich also zu der Zeit, in der man sonst gemütlich am Abendbrottisch sitzt und ein feierabendliches Glas Wein genießt, dass sich ein Team aus Küsterkreis und Kirchengemeinderat daran machte, unsere Kirche wieder in den Alltagszustand zu versetzen.
Wir schraubten die Kerzenleuchter von den Bänken, kratzten das Wachs ab und verstauten sie in der Kammer. Wir holten den Adventskranz von der Decke, entledigten ihn seiner trocken gewordenen Zweige, verpackten sorgsam seine Schleifen und Bänder und legten sie nach ganz unten in den Schrank: Tschüss. Wir sehen uns in einem Jahr! Das Schwierigste natürlich war der Weihnachtsbaum. Früher gab es im Fernsehen mal eine Werbung, in der man sah, wie sich überall die Fenster der Häuser öffneten und die alten Weihnachtsbäume einfach auf die Straße flogen. Bei einem sechs Meter hohen Kirchenweihnachtsbaum muss allerdings eine andere Lösung her. Und die hieß: Kettensäge. Zu dritt kippten wir den Baum um und zerlegten ihn dann in mehr oder weniger handliche Einzelteile. Am Ende waren da nur Späne, trockene Tannennadeln und – wie zum Trost – ein schwacher, schöner Duft nach Holz. Ich weiß nicht, wie es Ihnen geht, aber mich machen diese nachfestlichen Aufräumaktionen, bei denen alles wieder so wird, wie es immer ist, meist ein wenig melancholisch. Ich denke an all die Menschen, die dabei waren, an die vielen Gottesdienstbesucher und -besucherinnen und an die vielen, die geholfen haben: Konfi s, Küster, Lektoren, Kirchengemeinderat und Kantorei. Danke! Ich denke zurück an den ziemlich verrückten Samstag, an dem wir den
Weihnachtsbaum für die Kirche geschlagen haben, an die Geduld und Nervenstärke der Freiwilligen Feuerwehr Wohltorf und an das „Ja, natürlich! Sucht Euch einen aus.“, als wir bei Familie Bismarck fragten, ob sie uns spontan einen Baum spenden würden, weil der erste Baum nicht hielt, was er versprach. 1000 Dank! Ich denke an all die Vorbereitung und daran, wie es dann geworden ist: vier Wochen Advent, Quempas, Lichterfest, Lebendiger Advent, Weihnachtsgrüße schreiben und bekommen, bewegend schöne Gottesdienste mit Krippenspiel und Kantorei und O du fröhliche im Stehen. Und nun ist es vorbei. Und es ist wieder, wie es immer ist. Naja, nicht ganz. Denn es gibt etwas, was anders ist. Es gibt eine Erinnerung mehr an ein schönes Weihnachtsfest in der Gemeinde. Es gibt eine Geschichte mehr, die wir uns irgendwann einmal am Lagerfeuer erzählen können. Sie heißt „Wie wir damals beinah keinen Kirchenweihnachtsbaum gehabt hätten.“ Und wir werden darüber lachen. Wir werden in diesem Jahr unsere Weihnachtskrippe bis Maria Lichtmess in der Kirche stehen lassen. Auch das ist dieses Jahr anders als sonst, damit Weihnachten noch etwas nachklingt.
Und daneben gibt es noch etwas. Es gibt etwas, das bleibt – auch wenn alle alten Weihnachtsbäume schon längst geschreddert sind. Und das ist die Botschaft:
Fürchtet euch nicht. Euch ist heute der Heiland geboren, welcher ist Christus,der Herr, in der Stadt Davids.
Ihr Pastor
René Enzenauer
Fotos©R.Enzenauer
März 2019
Liebe Wohltorfer, liebe Krabbenkamper,
was wäre die Londoner U-Bahn ohne die Durchsage: „Mind the gap!“. Was wäre eine Autofahrt ohne ein „Fahr vorsichtig!“ beim Aufbruch. Und was wäre ein Flug von Hamburg nach Paris ohne das freundliche „Die Notausgänge befinden sich…“ vor dem Start.
Es gibt Sätze, die sind wie eine Prägung. Die gehören einfach dazu. Man erwartet sie in bestimmten Kontexten oder an bestimmten Orten. Das gleiche gilt auch für Themen und Gedanken. Dass es in einer Gemeinde immer irgendwie um Gott geht, ist ja letztlich auch so sicher wie das Amen in der Kirche.
Solche Prägungen haben Vorteile. Sie stiften zum Beispiel Identität. Man sagt „Mind the gap!“ und denkt an die U-Bahn in London. Und sie sorgen für das beruhigende Gefühl, man wisse immer schon zumindest einigermaßen, worum es geht. Aber eben genau darin liegt auch eine Tücke. Wer hundert Mal geflogen ist, denkt sich „Kenn ich schon!“ – und liest eher Zeitung als die Sicherheitshinweise aus der Sitztasche vor einem …
Mit dem Monatsspruch für den März geht es mir ähnlich: Wendet euer Herz wieder dem Herrn zu und dient ihm allein. (1. Sam 7,3) Das erste Gebot ist gedanklich nicht weit weg. Die fünf Bücher Mose, die Propheten, die Predigt Jesu mit ihrem Aufruf zu Buße und Umkehr in den Evangelien – das Thema dieses Verses aus dem Samuelbuch zieht sich im Grunde durch die Bibel. Kenn ich schon! Und davon abgesehen: Wirklich einladend klingen die Worte auch nicht gerade. Im Gegenteil, sie unterstellen, dass man mit anderen Dingen beschäftigt ist. Mit Zeitunglesen vielleicht.
Spannend wird der Vers erst auf den zweiten Blick, nämlich besonders bei der Frage, wie.
Wie macht man das eigentlich, sein Herz dem Herrn zuwenden und ihm allein dienen?
Wie geht das? Und wie geht das gerade heute? In diesen Tagen widmen sich die Gemeinden und Kirchenkreise unserer Landeskirche im Grunde dieser Frage. Wie wollen wir Kirche sein? Und wie wollen wir unter sich immer verändernden Bedingungen unserem Auftrag gerecht werden? Im Februar haben sich zum Beispiel ca. 400 Menschen aus den Gemeinden unseres Kirchenkreises in Lübeck getroffen, um darüber zu diskutieren. Auch wir waren mit dem Kirchengemeinderat und anderen Ehrenamtlichen dabei, um Eindrücke und Ideen für unsere Gemeinde zu gewinnen.
Eine letztgültige Antwort haben wir bei all dem noch nicht gefunden. Die gibt es auch nicht. Aber wir haben ein Ziel: Wir wollen ein buntes Gemeindeleben auf dem Kirchberg! Wir wollen Kirche sein, im Dorf und für das Dorf. Und wir wollen Kirche gestalten und die Chancen nutzen, die in den Veränderungen liegen, ganz im Sinne unserer protestantischen Tradition einer ecclesia semper reformanda.
Wir haben kein Patentrezept wie das gelingen kann. Auch das gibt es nicht. Aber wir haben einige erste Schritte getan, von denen wir uns etwas versprechen. Darüber wollen wir Sie bei unserer nächsten Gemeindeversammlung am 31. März informieren. Und wir wollen mit Ihnen ins Gespräch kommen, mit allen von Ihnen, die ein Herz für ihre Kirche und ihre Gemeinde haben und die bei diesen Herausforderungen helfen wollen.
Ich bin mir sicher, wir finden unsere wohltorf-krabbenkampschen Wege, wie das gehen kann, mit unseren Gebäuden, mit unserem Gemeindeleben, mit unseren Nachbarn in den umliegenden Gemeinden und auch mit dem kleinen Vers aus dem Samuelbuch.
Ihr Pastor
René Enzenauer
April 2019
Liebe Wohltorfer, liebe Krabbenkamper,
Es ist ein Morgen im Januar 2007. Ein junger Mann – Mitte 30, Jeans, Pullover, Basecap – betritt eine U-Bahn-Station in Washington.
Er ist einer von tausenden Menschen, die jeden Morgen hier vorbeikommen. Sie sind auf dem Weg zur Arbeit. Sie bringen ihre Kinder in die Schule, wieder andere sind einfach auf der Durchreise. Es gibt ratternde Rolltreppen, es gibt einen Zeitungskiosk und natürlich den Stand für einen Kaffee zum Mitnehmen. Ein ganz normaler Morgen in einer ganz normalen U-Bahn-Station.
Aber der junge Mann will nicht U-Bahn fahren. Er sucht sich einen Platz am Rand der großen Eingangshalle. Aus einem Koff er holt er eine Violine. Er spannt den Bogen, dreht an den Wirbeln, stimmt das Instrument. Seinen Geigenkoffer stellt er neben sich und wirft ein paar Münzen als Wechselgeld hinein – für den Fall, dass ein fröhlicher Geber nur große Scheine dabeihaben sollte. Dann beginnt er zu spielen.
Das erste Stück ist die „Chaconne d-Moll“ von Johann Sebastian Bach, ein Meisterwerk der Musikgeschichte. Es folgen Stücke von Schubert, von Emanuel María Ponce und anderen. Insgesamt spielt der Mann 43 Minuten.
1097 Menschen gehen dabei an ihm vorbei. Nur sieben bleiben stehen und hören wenige Minuten zu. 27 Passanten werfen Münzen in den Geigenkasten. Am Ende verdient der U-Bahn-Geiger 32,17 Dollar.
Was niemand wusste: Der Mann, der da die Violine spielte, stand drei Tage vorher auf der Bühne der Symphony Hall in Boston, der Heimat des berühmten Boston Symphony Orchestra. Dort spielte er ein Violinkonzert von Max Bruch. Mit 100 Dollar pro Eintrittskarte hätten wir dabei sein können. Was ebenfalls keiner ahnte: Seine Violine ist so besonders, dass sie einen Namen hat. Sie heißt Gibson ex Hubernam. Antonio Stradivari hatte sie 1713 gebaut. Würde man ein Preisschild an diese Violine hängen, dann würden etwa 3,1 Millionen Euro darauf stehen.
Und dann war da noch der U-Bahn-Geiger selbst. Das war der amerikanische Violinist Joshua Bell. Mit vier Jahren fing er an Geige zu spielen. Mit 14 arbeitete er als Solist mit den großen Dirigenten dieser Welt. Seine Gage liegt normalerweise bei ca. 1000 Dollar – für jede Minute, die er spielt.
Dieser Januarmorgen in der U-Bahn-Station war ein Experiment der Zeitung Washington Post, das unter dem Namen Pearls Before Breakfast – Perlen vor dem Frühstück – bekannt wurde. Es ist ein Lehrstück über die Wahrnehmung von Kunst und über das Verhältnis von Kunst und dem Kontext, in dem sie geschieht. Und es ist ein Lehrstück über das Leben, finde ich.
Da ereignet sich mitten im Alltagstrott für alle sichtbar und hörbar ein musikalisches Wunder und kaum jemand merkt es: Stell dir vor, es ist Kunst, und keiner kriegts mit!
Mich selbst erinnert das an die Ostergeschichte. Da steht eine Frau mit Namen Maria am Ostermorgen weinend vor dem leeren Grab: „Sie haben meinen Herrn weggenommen, und ich weiß nicht, wo sie ihn hingelegt haben.“, sagt sie. Dann dreht sie sich um und sieht den auferstandenen Jesus vor sich. Aber: „Sie meint, es sei der Gärtner.“
Stell dir vor, es ist Ostern, und Du merkst es nicht. Stell dir vor, mitten in deinem Alltagstrott blitzt für dich auf, was Ostern meint: Leben, das trotz Leid und Traurigkeit nicht totzukriegen ist. Stell dir vor, da ist der lebendige Gott an deiner Seite und das, was dir erst ausweglos und endgültig erschien, wird zum Startpunkt für ein neues Leben. Stell dir vor, da passiert dir dieses Wunder und du nimmst es gar nicht richtig wahr. Wäre das nicht schade?
Frohe Ostern wünscht
Ihr Pastor
René Enzenauer
Mai 2019
Liebe Wohltorfer, liebe Krabbenkamper,
das, was hier steht, ist nur so ein Gedanke. Neulich schlich er sich durch meinen Kopf. Vielleicht ist mein Gedanke wahr. Vielleicht auch nicht. Er soll nur ein Versuch sein zu verstehen.
„Bitte nicht nachmachen!“
Diese Überschrift sah ich im Internet. Ich weiß immer gern, was andere mir verbieten wollen. Also las ich die dazugehörige Geschichte: Ein Vater war mit seiner Tochter in einem Freizeitpark. Dort wollte die Tochter in eine Attraktion, bei der man aus großer Höhe im freien Fall herunterfällt. Das Problem war nur, sie war noch nicht groß genug. Ein paar Zentimeter fehlten bis zur vorgeschriebenen Mindestgröße. Also kam ihr Papa auf folgende Idee: Laut Artikel nahm er sich Schokoriegel und stopfte sie in die Schuhe seiner Tochter. So präpariert schlüpfte sie durch die Einlasskontrolle. Beim freien Fall kam dann, was kommen musste: Das Mädchen sei nach oben geflogen, weil die Sicherung sie nicht halten konnte. Der Vater erzählte, er habe sein Kind festhalten müssen. Und dann sagte er diesen bemerkenswerten Satz: „Vielleicht gibt es einen guten Grund für eine Mindestgröße.“
Abgesehen von der irritierenden und irgendwie auch ekligen Sache mit den Schokoriegeln, erstaunt mich das „Vielleicht“.
Im Ernst?! Vielleicht?!?!
Da gibt es Sicherheitsbehörden, Technikprüfer und Ingenieure an Computern, die physikalische Gesetze in Freizeitpark- Attraktionen simulieren. Es gibt also Experten, die allesamt zu dem Schluss kommen, dass man eine Mindestgröße haben muss. Und da kommt dann jemand daher und hält das für… tja, für was eigentlich? Für eine unverbindliche Empfehlung? Für einen Ausdruck zu gut gemeinter Fürsorge? Für Bevormundung?
Ich habe darüber nachgedacht, was jemanden wohl dazu bewegt, so eine Anweisung zu ignorieren. Vielleicht ist es Leichtsinn oder Dummheit. Aber mal angenommen, dass der Vater alle Sinne beieinander hat, dann muss es an etwas Anderem liegen. Mein erster Verdacht ist: Es hat etwas mit Autorität zu tun. Da sagt eine unbekannte Macht in Gestalt eines Schildes, dass man etwas nicht darf. Es gibt keine Begründung, keine Erklärung, keine Diskussion. Es gibt nur: Du darfst das nicht. So eine apodiktische Ansage passt einfach nicht mehr zu uns. Äußere Autoritäten passen nicht in unsere Zeit, die die an sich guten Errungenschaften eines selbstbestimmten Lebens und der individuellen Freiheit mitunter kompromisslos überhöht. Heute will man wenigstens eine Erklärung für ein „Nein!“
Mein zweiter Verdacht ist: Es hat etwas mit der mehr oder weniger bewussten Haltung zu tun, die einem einflüstert: „Ich weiß es besser.“ Ich kenne Ärztinnen und Lehrer, die davon ein Lied singen. Heute wissen Patienten, was sie haben, wenn sie zum Arzt kommen. Man ahnt nicht, was passiert, wenn der Mediziner eine andere Diagnose stellt. Die Lehrer wiederum erzählen von den Hinweisen besorgter Eltern, wie sie als studierte Pädagogik- und Didaktik- Experten ihre Arbeit besser machen sollten. Diesem Phänomen widmen sich inzwischen sogar schon Bücher – und eine Comedyserie… Experten sind suspekt. Sie sind gut, wenn sie die eigene Meinung bestätigen. Ansonsten gilt: ICH weiß IMMER selbst am besten, was am besten ist. Vielleicht kommen ja daher auch der Unmut über Politiker und die Unversöhnlichkeit in der politischen Debatte? Das Unterhaus in London lässt grüßen.
Vielleicht ist das so. Vielleicht?? Vielleicht! Es ist nur ein Gedanke. So wie alles, was ich hier geschrieben habe. Ob er wahr ist, überlasse ich Ihnen. Einen Gedanken habe ich allerdings noch. Der lautet „Sprüche 11,2.“ Da steht etwas über den Zusammenhang von Weisheit und Demut.
Weisheit ist die Kunst, ein Leben zu führen.
Und Demut, naja, ist schwer.
Aber auch das ist nur ein Gedanke. Vielleicht ein guter.
Vielleicht??
Vielleicht!
Ihr Pastor
René Enzenauer
Juni 2019
Liebe Wohltorfer, liebe Krabbenkamper,
in meiner Küche riecht es wie auf St. Pauli in der Haifischbar. Nach Bier. Und das kam so:
Morgens, 6 Uhr. Ich komme in die Küche, lege Brötchenzum Aufbacken in den Ofen, decke den Tisch für das Frühstück und denke dabei über diesen Gemeindebrief nach. Was soll ich nur schreiben?!
Ich suche in Gedanken nach einem guten Thema. Da war doch dieses Buch von dem Mann, der nach der Arbeit mit der S-Bahn in die „Wildnis“ fährt und unter freiem Himmel übernachtet, einfach so, weil er es kann. Die alltäglichen, einfachen, schrägen Abenteuer im Leben also. Vielleicht ein gutes Thema. Und prompt fällt mir ein Bibelvers ein, der mir neulich über den Weg lief und der mich faszinierte. Wenn ich diese beiden Dinge nun zusammenbringe… Daraus könnte etwas werden, denke ich und bin ehrlich gesagt von meiner eigenen Idee ziemlich begeistert.
Ich versuche mir vorzustellen, wie der Artikel aufgebaut sein könnte, da fällt mein Blick in meine Küchenspüle. „Shine your sink – Lass deine Spüle strahlen.“, schießt mir durch den Kopf. Eine Freundin hatte neulich diesen Satz gesagt. In ihrer Freizeit beschäftigt sie sich neuerdings mit Aufräumen. Ein seltsames Hobby. Aber so hat halt jeder seine eigenen alltäglichen, einfachen, schrägen Abenteuer im Leben. Andere schlafen grundlos freiwillig bei Minusgraden unter freiem Himmel. Aufräumen erscheint dagegen auf den ersten Blick viel sinnvoller, und man lernt dabei Lebensweisheiten wie „Shine your sink“. Und das ist nun wirklich weise. Denn damit deine Spüle sauber ist, musst du den Geschirrspüler ausräumen, damit wiederum das schmutzige Geschirr hinein kann. „Eine Regel – dreifacher Erfolg“, selbstoptimiere ich mich und beginne, meinen Geschirrspüler auszuräumen. Gläser, Töpfe, Teller usw. Dabei schreibe ich in Gedanken weiter an meinem Gemeindebrief, bis ich beim Pfannenwender angekommen bin. Ich will ihn gerade in der Pfannenwenderhaltevorrichtung platzieren, da gibt es einen Knall.
Neben mir fällt eine Flasche Bier von der Küchenarbeitsplatte. Ich muss sie aus Versehen mit meinem Arm berührt haben. Ich sehe wie die Flasche fällt, wie sie aufprallt, wie sie in tausend Scherben zerspringt, und wie sich das Bier seinen Weg über den Küchenfußboden sucht, als wollte es fl iehen. Es riecht wie auf St. Pauli in der Haifi schbar.
„Fabelhaft!“, denke ich wütend, „Kann nicht mal irgendwas nach Plan verlaufen?“ Ich wollte doch jetzt in Ruhe frühstücken! Dann wollte ich in Ruhe den Gemeindebrief schreiben! Über die alltäglichen, einfachen, schrägen Abenteuer des Lebens! Über die kleinen Überraschungen und erfrischend unplanbaren Dinge, die das Leben lebenswert machen und die überall auf uns warten, wenn man denn nur genau hinsieht! Über das Buch von dem Mann, der nach der Arbeit unter freiem Himmel schläft und über Sprüche 8 wollte ich schreiben:
Frau Weisheit spricht: Ich war seine Lust täglich. Ich spielte vor Gott allezeit; ich spielte auf seinem Erdkreis und hatte meine Lust an den Menschenkindern.
Über die Weisheit des Lebens wollte ich schreiben. Darüber, das Leben spielerisch zu nehmen, so wie Kinder es tun. Zu nehmen, was kommt, und daraus kreativ etwas Neues zu erschaff en, sich mit Lust in die überraschenden, alltäglichen, einfachen, schrägen Abenteuer des Lebens zu stürzen und das Beste daraus zu machen, wenn mal etwas nicht nach Plan verläuft! Verdammt, darüber wollte ich schreiben! Und dann fällt diese blöde Flasche runter und mein ganzer Plan ist dahin.
Als ich fertig bin mit Aufwischen, sind meine Aufbackbrötchen verkohlt. Das auch noch! Aber immerhin ist mir beim Putzen noch etwas eingefallen. Im Lutherfilm sagt Luthers Beichtvater zu Luther: „Man kann immer am besten über das predigen, wovon man selbst am wenigsten versteht.“
Na dann…
Ihr Pastor
René Enzenauer
Juli 2019
Liebe Wohltorfer, liebe Krabbenkamper,
„Es sieht zwar verschroben intellektuell aus, aber du musst mal deine Bücherregale aufräumen.“
Das dachte ich beim Blick vom Sofa auf den Literaturhaufen, der es sich mit der Zeit auf einem alten Klavierhocker, auf dem Fußboden und in den vollgestopften Regalböden bequem gemacht hatte.
Nachdem ich genug über die Sinnhaftigkeit dieses selbstgestellten Arbeitsauftrags nachgedacht hatte, machte ich mich ans Werk. Ganz oben im Regal fing ich an. In meiner nicht so genau festgelegten Systematik stehen dort die Musikalien. Ich sortierte mich durch eine Ausgabe der Bach‘schen Inventionen und Sinfonien, fand einen Band mit Sonatinen und entdeckte Mendelssohns Lieder ohne Worte. (Nicht, dass ich sie spielen könnte.)
Dann fiel es mir in die Hände: Gehörbildung. Satzlehre, Improvisation und Höranalyse. Ein Lehrgang mit historischen Beispielen.
Richtig studiert hatte ich das Buch zum letzten Mal während meiner Abi-Zeit. Und so wurden Erinnerungen wach, an Melodie-Diktate, an prima vista vom Blatt singen und an viele andere Methoden, mir Kopfschmerzen zu bereiten. Ich war nie besonders gut in Gehörbildung, was dazu führte, dass ich mir damals dieses 240 Seiten starke Buch besorgte, in dem alles steht, was man vom Hören wissen muss und können könnte.
Ich hörte auf mit Aufräumen, nahm das Buch, setzte mich aufs Sofa und fing an zu blättern. Ich las von Rhythmik und Tonhöhenbeziehungen, von der phrygische Tonreihe über e, von zweistimmigen Parallelführungen und synkopierten Fauxbourdonsätzen in Verbindung mit Sextakkordketten.
Es ist nicht so, dass ich eine Ahnung davon hätte, was all das bedeutet. Mein Abi liegt ja auch schon eine Weile zurück. Aber diese wenigen Stichworte geben selbst einem Gehörbildungsamateur wie mir einen Eindruck davon, dass echtes Hören etwas anderes ist, als beim Einkaufen oder beim Joggen einer Musik davonzulaufen.
Echtes Hören ist mehr. Da geht es um Details und um Konzentration auf das zu Hörende. Es geht um die Auf- und Abbewegungen verschiedener Stimmen und um ihr Verhältnis zueinander. Es geht um das Entdecken von Konsonanz und Dissonanz, von Zusammenklang und Reibungen. Es geht darum herauszuhören, warum etwas so klingt wie es klingt. Und es geht um Affekte, um Stimmungen und um das Verständnis davon, wie diese Stimmungen zustande kommen. Verstehen und Verständnis der Musik durch echtes Hören also. Darum geht es.
Dem Schreiber des ersten Jakobusbriefes würde das wahrscheinlich sehr gefallen. Er notiert in seinem ersten Kapitel:
Ihr sollt wissen: Ein jeder Mensch sei schnell zum Hören, langsam zum Reden, langsam zum Zorn. (Jakobus 1,19)
Bevor Du selbst etwas zu den Tönen in der Welt beiträgst, höre erstmal genau zu und verstehe. Um was geht es? Wo ist Konsonanz und wo ist Dissonanz, wo ist Zusammenklang und wo der Widerspruch? Wie verhalten sich Menschen und Meinungen zueinander? Warum klingt es wie es klingt? Welche Stimmungen sind da und wie kommen sie zustande? Verstehen und Verständnis der Menschen Deiner Umwelt durch echtes Hören also. Darum geht es. Und erst dann, wenn Du gehört und verstanden hast, erst dann rede. Erst dann werde auch mal zornig, wenn es Not tut. Aber eben erst dann. Möglicherweise erübrigt sich das zornig Werden ja sogar. Besser wäre es, denn des Menschen Zorn tut nicht, was vor Gott recht ist, schreibt der Jakobusbrief einen Vers später.
Einfach ist ein solches Hören nicht. Aber lernen und üben kann man es. Deswegen gibt es ja so dicke Bücher über Gehörbildung.
Apropos: Meine Bücherregale sind immer noch nicht aufgeräumt. Aber ich habe übers Hören nachgedacht. Das ist ja auch schon was.
Ihr Pastor
René Enzenauer
August 2019
Liebe Wohltorfer, liebe Krabbenkamper,
An einem Sonntagmorgen im Juli gehe ich mit meinem Hund am Kirchberg spazieren und werde von einem schlechten Gewissen geplagt: Ich hätte in die Kirche gehen sollen. Es ist die Sommerkirche und Frau Thode predigt zum letzten Mal in der Wohltorfer Kirche. Ich hoffe, dass an diesem eher grauen Sommermorgen mehr als nur ein paar Gemeindeglieder in der Kirche sind. Und gerade als ich die Spitze des Hügels erreiche, kann ich bereits die Autos sehen, die entlang der Straße parken, und ich bin erleichtert – der Kirchenparkplatz ist voll, die Kirche muss dann wohl auch gut besucht sein.
Vielleicht bin ich überrascht, dass so viele Autos auf dem Parkplatz stehen, weil es den Rest der Woche so ruhig war. Es ist eine willkommene Pause nach der arbeitsreichen ersten Jahreshälfte. Pastor Enzenauer verließ Wohltorf und trat seinen wohlverdienten Urlaub nach einer ereignisreichen Zeit an. Ich möchte Ihnen einen Einblick in unsere Arbeit geben und über das Erreichte der letzten 6 Monate berichten.
Wir verbringen während jeder Kirchengemeinderatssitzung ein paar Minuten damit, die Ereignisse des Vormonats zu reflektieren und zusammenzufassen. Einige meiner Höhepunkte waren die Folgenden:
Februar: Frau Wiese berichtet von der abgeschlossenen Renovierung der Orgel, welche nach 50 Betriebsjahren nötig wurde. Das Wohltorfer Orgeljahr kann somit beginnen. Die Renovierung dauerte insgesamt 4 Wochen und kostete einen fünfstelligen Betrag. Wir sind dankbar für die vielen Spenden und freuen uns auf die Konzerte und Gottesdienste.
März: Konfi-Freizeit
Mit den 33 Konfis waren wir im Februar im Ferienhof Lamp an der Ostsee und haben uns mit dem Thema „Abendmahl“ beschäftigt. Es gab die legändere Eier-Flugzeugbau-Challenge (mit dem Ziel des Erlernens der Zusammenarbeit in einer Gruppe mit jeder Menge Spass.), eine Beichtandacht und ein Abendmahl am Strand. Die Rückmeldungen der Konfis und der Teamer (aus Au und Wo) zeigten uns, dass es eine „feine“ Freizeit war, die Inhalte und Spaß ideal mit einander verbunden hat.
April: Unser Bauvorhaben
Neubau des Gemeindehauses mit zwei Krippenräumen: Nach der positiv beschiedenen Bauvoranfrage fand ein Termin mit dem Stadtplaner statt. In diesem Termin wurde deutlich, dass unsere Konzepte umsetzbar sind. In einem nächsten Schritt streben wir die Aufnahme des Grundstückes „Kirchberg 3“ in den Bebauungsplan der Gemeinde Wohltorf an, um schneller und flexibler die nächsten Schritte angehen zu können.
Mai: Mini-Regionaler Jugendausschuss
Aumühle und Wohltorf
Der Ausschuss hat in der neu berufenen Besetzung das erste Mal erfolgreich getagt. Ziel des Ausschusses ist eine Vernetzung der Jugendarbeit in Aumühle und Wohltorf und der Entwicklung gemeinsamer Projekte und Programme. Diesmal haben wir vor allem über die Programmplanung für die zweite Jahreshälfte und über das Bauwagenprojekt gesprochen. In dem Projekt soll ein Bauwagen zum Jugendraum umgestaltet und von Jugendlichen beider Gemeinden genutzt werden.
Juni: Konfirmationen
32 Konfis wurden fröhlich konfirmiert. Danke an die Ensembles für die musikalische Gestaltung beim Abendmahlsgottesdienst. Das Feedback war sehr positiv und die Gottesdienste haben allen Beteiligten sehr viel Freude bereitet. Mir ist insbesondere aufgefallen, wie die Konfirmanden*Innen den Gottesdienst trotz ihrer Aufregung intensiv verfolgten. Mein Eindruck ist, dass die Predigten von Pastor Enzenauer bei den Jugendlichen ankommen.
Einführungsgottesdienst
Es war ein sehr gelungener Gottesdienst mit einer tollen Party im Anschluss. Herzlichen Dank an das Orga-Team und Frau Wiese! Besonders schön, dass ein Querschnitt unserer Gemeinde anwesend war. Mir war es sehr wichtig folgende Worte an Pastor Enzenauer zu richten: „Pastor Enzenauer ist nicht nur ein Pastor, er ist ein richtig cooler Typ, in der Kirche und in allen Lebenslagen. Mit Hilfe der vielen Ehrenamtlichen und der Zusammenarbeit mit Frau Wiese, Frau Ziel, und dem Kita-Team, hält er nicht nur Gottesdienste, er ist bei den Kindern in der Kita, er ist im Haus Billtal, er macht einen lebendigen, vielseitigen Konfiunterricht, er macht Besuchsdienst, er tauft, traut, beerdigt und vieles mehr. Das macht die Kirchengemeinde Wohltorf nicht nur schöner, sondern richtig lebendig und vielseitig!“ [In Anlehnung an den Werbetext des Geschenkes, welches Pastor Enzenauer von uns bekam]
Nun zurück zu Frau Thode. Ich werde natürlich bei ihrem Abschiedsgottesdienst in Aumühle dabei sein. Ich bin Frau Thode in vielerlei Hinsicht dankbar. Während ihrer Zeit in Aumühle erwies sie sich nicht nur als eine hilfsbereite und gute Nachbarin der Wohltorfer Kirche, sondern trug auch dazu bei, dass sich Pastor Rene Enzenauer so gut in Wohltorf und im Sachsenwald einleben konnte. Im Namen des Wohltorfer Kirchengemeinderats bedanke ich mich bei Johanna Thode für die gute und freundschaftliche Zusammenarbeit und wünsche ihr viel Glück, Erfolg und Gottes Segen.
Für den Kirchengemeinderat Friederike Probst
September 2019
Liebe Wohltorfer, liebe Krabbenkamper,
Ich glaube, es stimmt. Der Mensch braucht Rituale. Wenn man will, kann man viele Theorien darüber lesen. Allen gemeinsam ist aber die grundlegende Feststellung, dass der Mensch offenbar irgendetwas braucht, womit er Übergänge im Leben gestaltet.
Neulich war zum Beispiel Schulanfängergottesdienst. Aus Kita-Kindern werden Schulkinder. Der berühmte „Ernst des Lebens“ beginnt. So sagt man. Wie wichtig dieser Übergang inzwischen ist, zeigt die Beobachtung, dass diese Gottesdienste in manchen Gemeinden zu den bestbesuchten Veranstaltungen im Gemeindeleben geworden sind. Nur Weihnachten ist noch größer.
Ein Lebensabschnitt geht zu Ende. Ein neuer beginnt. Der Übergang möchte gelebt werden. So ist das beim Schulanfang. So ist das bei der Hochzeit, die oft mit großem Aufwand und mit monatelang vorbereiteten Trauungen begangen wird. So ist das bei Konfirmationen, dem heute zumeist eher gefühlten Schritt ins Erwachsenenleben. Bei all dem gibt es ein Fest. Es gibt Geschenke. Und es gibt passende gute Worte in Versen, Sprüchen und Reden. Aber es gibt diese Übergänge auch in sehr viel weniger spektakulärer Form. Sie fallen nicht so sehr auf, sind eher alltäglich. Man könnte sagen: en passant.
Ein solcher Übergang lautet zum Beispiel: „Und?! Wie war dein Urlaub?“
Eine gewöhnliche Frage eigentlich. Aber auch sie markiert einen Übergang. Die Ferien sind vorbei. Man sieht sich das erste Mal nach den Urlaubswochen wieder. Und dann kommt diese Frage: „Wie war es denn?“
Man erzählt sich, vom Wandern in den Bergen, von langen Stränden, von Sonne und vom Baden im Atlantik. Man denkt zurück ans Ausschlafen, an gutes Essen, an Seele baumeln lassen und an die endlich einmal abgeschlossene Sommerlektüre. Das alles erzählt man einander, wohl wissend, dass diese Wohlfühlzeit jetzt, in dem Moment, in dem man nach ihr fragt, vorbei ist. Und so antwortet der Eine oder die Andere: „Ach, schön wars. Aber die Arbeit hat mich schon wieder fest im Griff .“ Ganz unaufgeregt und ungefeiert hat sich der Übergang von der schönsten Zeit des Jahres zum Alltag ins Leben geschlichen. Und plötzlich ist Montag, der Wecker klingelt viel zu früh, und die Arbeit und die Schule warten.
Inzwischen gibt es viele Leute, die sich damit nicht abfinden wollen. Zum Beispiel dadurch, dass sie nach der Arbeit nicht nach Hause fahren, um auf dem Sofa den Arbeitstag zu Ende zu sitzen. Stattdessen packen sie ihren Rucksack, schwingen sich aufs Fahrrad, fahren etwa an eine abgelegene Ecke an die Elbe, und übernachten unterm Sternenhimmel in der Hängematte. Sie wollen ein bisschen Urlaubsfeeling in den Alltag bringen, damit der Übergang nicht immer so abrupt ist.
Vielleicht wäre es ja eine Idee, sich auch für diesen kleinen „Sommer-Zeitenwechsel“ ein Ritual auszudenken. Im Moment habe ich noch keine Vorstellung, wie das aussehen könnte.
Geschenkideen hätte ich auch noch nicht. Darin bin ich eh schlecht. Aber einen Vers hätte ich schon. Der steht bei Matthäus 16 und lautet:
Was hülfe es dem Menschen, wenn er die ganze Welt gewönne und nähme doch Schaden an seiner Seele.
Sie sind Ausdruck der Überzeugung, dass es unendlich viel wichtiger ist, sich um sein Seelenheil zu kümmern, als um die vielen vermeintlich wichtigen Dinge, an die man sein Leben gewöhnlich sonst so hängt. So ein Satz ist doch ein passendes Gegengewicht, gegen einen Alltag mit seinen Mühen, seinem ständigen Weben und Streben und seinen Zwängen. Stattdessen also die Seele nicht nur baumeln lassen, sondern sie hegen und pflegen und sie ausrichten auf den, der sie am Leben hält und sie durchs Leben trägt.
Ich finde, das würde ganz gut passen zu dem Urlaubs Alltagsübergangsfest, für das ich noch keinen Namen habe. Aber vielleicht fällt mir der noch ein, abends an der Elbe unterm Sternenhimmel.
Ihr Pastor
René Enzenauer
Oktober 2019
Liebe Wohltorfer, liebe Krabbenkamper,
Eigentlich will ich diesen Text gar nicht schreiben. Nicht weil ich etwas gegen das Format „Gemeindebrief“ an sich hätte. Sondern weil ich das diesmalige Thema auf unangenehme Weise schwierig finde. Denn: Wir müssen über Geld reden. Das jedenfalls legt der Vers aus dem Buch Tobit nahe, der zum Monatsspruch im Oktober geworden ist:
Wie es dir möglich ist: Aus dem Vollen schöpfend – gib davon Almosen! Wenn dir wenig möglich ist, fürchte dich nicht, aus dem Wenigen Almosen zu geben! (Tobit 4,8)
Diese Sätze sagt der alte Tobit zu seinem Sohn. Tobit wähnt sein Ende nahe und will dem Sprössling noch ein paar Dinge für ein gutes, gerechtes und gottgefälliges Leben nahelegen. Dazu gehört dieser Ratschlag. Wenn du viel hast, schöpfe aus dem Vollen und gib anderen davon ab. Wenn du wenig hast, gib von deinem Wenigen und mach dir keine Sorgen, ob am Ende noch etwas für dich übrig bleibt. Wird schon. In jedem Falle also: Gib!
Ich finde, das ist ein Thema, über das sich nur schwer etwas sagen lässt. Nehmen wir zum Beispiel den Imperativ „Gib!“. Ich könnte mich hinter dem Bibeltext verstecken und diese Aufforderung einfach übernehmen. Dann wäre dies hier ein ethischer Appell. Ich würde Ihnen sagen: „Geben Sie was ab, von dem, was Sie haben.“ Dann könnten Sie antworten: „Moment mal, Herr Enzenauer, was ich mit meinem Besitz mache, das müssen Sie schon mir überlassen.“ Und ich stehe dann betroffen da und sage: „Stimmt.“
Alternativ könnte ich darüber schreiben, dass Sie auch etwas abgeben können, wenn Sie selbst nur wenig besitzen. Dann wäre dieser Text ein Art Ermutigung à la: „Riskiere das Wenige, dass du hast und setz dich selbst aufs Spiel. Du wirst schon sehen, es bleibt dir immer noch genug. Du wirst merken wie reich du eigentlich bist.“ Theologisch leichtsinnig könnte ich auch noch behaupten, dass Gott schon für die Seinen sorgen wird – also auch für dich. Das alles aber würde einen Hauch Zynismus atmen. Außerdem wissen Sie und ich, dass „Gott wird’s schon richten“ wahrlich leider nicht so einfach ist.
Ich könnte aber auch das tun, was man sonst so tut mit dieser Art von Texten. Ich könnte erklären, dass es doch wunderbar ist zu teilen. Dass man damit einander Freude macht. Dass es gut und sinnvoll ist, anderen zu helfen. Ich könnte schreiben, dass Geben seliger ist als Nehmen und dass ersteres doch beide glücklich macht, den Schenkenden und den Beschenkten. Auch dann wäre dieser Text ein Appell, nur eben indirekt, durch die Hintertür. Und abgesehen davon wissen Sie das alles schon. Es wären Plattitüden aus Verlegenheit. Und es wären genau die Worte, die man von einem Pastor erwartet. Das Übliche also.
Schließlich könnte ich das Geben auch noch theologisch aufwerten, so wie es der alte Tobit macht. Der sagt nämlich ein paar Verse weiter vom Almosen geben folgendes: „So wirst du dir einen guten Schatz für den Tag der Not sammeln. Denn Almosen retten vom Tode und bewahren vor der Finsternis. Almosen sind ja eine gute Gabe für alle, die sie vor dem Höchsten geben.“ Puh! Dem Lutheraner könnte bei diesen Zeilen etwas blümerant werden, riechen sie doch allzu sehr nach Werkgerechtigkeit. Und das sei ferne!
Und nun? Vielleicht ist Tobit 8,4 ja gar kein Vers zum einfach so Nachmachen. Sondern er ist zuallererst Teil der Erkenntnis eines Mannes im Herbst seines Lebens. Der Vers ist Teil der Antwort des alten Tobit auf die Frage nach einem guten und gerechten Leben zwischen Nächsten-, Selbst- und Gottesliebe. Ob Sie auf diese Frage auch so antworten würden, ist ein anderes Thema. Vielleicht ja eines zum Nachdenken bei einem Spaziergang durch den oktoberherbstlichbunten Sachsenwald.
Ihr Pastor
René Enzenauer
November 2019
Liebe Wohltorfer, liebe Krabbenkamper,
Ein Termin in der großen Stadt: S-Bahn. Hauptbahnhof. Aussteigen. Mäandern durchs Gedränge. Koffer. Fahrrad. Kinderwagen. Und dazwischen ist kein Weg. Einfahrt nächste Bahn. Türen auf. Menschen raus. Es wird noch voller. Muss hier weg.
Treppe hoch. Ich geh nach links. Bahnhofsvorplatz. Einkaufsstraße: Bellen. Surren. Reden. Rumpeln. Handyklingeln und Musik. Irgendwo Tatütata.
Meistens mag ich dieses Durcheinander. Aber heute nicht. Mir fallen meine Kopfhörer ein. Wenn man sie anschaltet, können die auch Lärm ausblenden. Also Kopfhörer auf und dann schnell durch die Musik auf dem Handy scrollen: Was solls denn sein? Ich denke an die Konzertkarte, die mir einer geschenkt hat: Sonntag, Händel, „Messias“! Ich könnte mich einstimmen…
Ich klicke an irgendeine Stelle in der Messiasplaylist. Und es wird Friede auf den Ohren. Ich gehe weiter und ich höre ein paar Stücke. Plötzlich surrt ein satter tiefer Cello-Klang. Dann setzen Geigen ein. Ein Quartsprung, wie Tatütata. Nur schöner. Hier und da ein Triller wie ein kurzes Handyklingeln. Und dann punktierte Noten, ein bisschen wie der Rhythmus, den die Räder eines Zuges machen. Nur alles viel langsamer. Und dann singt Eine – ganz strahlend über allem: I know that my redeemer liveth.
Ich muss lächeln. Da stecke ich bis über beide Ohren mitten im Getümmel der großen Stadt, denke, „Ich muss hier raus.“ und dann erlöst mich der Messias von Händel und jemand singt mir zu: Ich weiß, dass mein Erlöser lebt. (Hiob 19,25) Das hat Humor. Und es ist einfach schön.
Es ist seltsam wie die ruhige Musik und die Worte in dieser Umgebung wirken. Ich sehe die Menschen um mich rum, sehe, wie sie miteinander reden und sehe ihre Gesten. Ich sehe einen, der auf einem Skateboard an mir vorbeirumpelt, und sehe was die Leute machen. Einkaufen und Tüten tragen und telefonieren und sich verabreden und Kaffee trinken. Und die da drüben sehen so aus als hätten sie gerade ihr erstes Date. Aber ich höre nichts von ihren Geräuschen. Ich höre nur, dass über allem klingt: Ich weiß, dass mein Erlöser lebt, und dass er am jüngsten Tage auf der Erde stehen wird…
Fremd wirkt das. Ob hier beim Einkaufen und beim Date einer an Erlösung denkt? Erlösung wovon? Natürlich hat ja jeder sein Päckchen zu tragen. Aber das, was ich sehe, sind Menschen, die so wirken als wüssten sie genau, was sie tun und als hätten sie ihr Leben selbst in der Hand. So wäre es ja auch wunderbar. Wie fremd muss dann aber die Botschaft für sie sein, dass da einer ist, der sie erlöst.
Ich habe gelesen, dass Händel den „Messias“ fürs weltliche Konzerthaus komponierte, nicht für die Kirche. Der Erfolg war mäßig. Richtig berühmt wurde diese Musik erst als man sie an anderen Orten spielte: bei der Uraufführung in Dublin, bei der man Geld für ein Krankenhaus und für die Betreuung ehemaliger Strafgefangener sammelte. Selbst in London wurde der „Messias“ irgendwann ein richtiger Knaller, aber wieder nicht im Konzertsaal, sondern in der Kirche eines Hospitals für Findelkinder. Die gleiche Musik, die gleiche Botschaft. Aber unterschiedliche Orte. Seltsam, oder?
Es sieht so aus als brauche der Erlöser Kontext, damit er uns erreicht. Auf der Shoppingmeile wirkt er beinah fehl am Platz. Aber da, wo die Not größer ist, da ist er Trost und vor allem Hoffnung. Da wird deutlich, dass die Welt ihn nötig hat. Weil anders als an anderen Orten genau dort sichtbar ist, dass sie sich nie vollständig selbst an den eigenen Haaren aus dem Sumpf ziehen kann. Das merkt man in der prosperierenden City weniger als im sozialen Brennpunkt am Stadtrand und im Konzertsaal weniger als im Krankenhaus.
Letzteres finde ich aber nicht schlimm. Wichtig ist doch nur, dass die Botschaft vom Erlöser letztlich über allem und für alle klingt. Für alle die wissen, dass sie ihn brauchen und für alle, die ihn noch brauchen könnten.
Apropos: Ich habe das Stück dann nochmal gehört. Weil es so schön war und weil mir jemand zusingt: Ich weiß, dass mein Erlöser lebt. Und weil ich darin gehört habe: Er lebt auch für dich.
Ihr Pastor
René Enzenauer
Dezember 2019
Liebe Wohltorfer, liebe Krabbenkamper,
Mit einer großen Blume auf der Auto-Rückbank war ich unterwegs. Ich fragte mich, ob es das Richtige war, was da vorsichtig in hellgraues Packpapier verpackt war.
Ein paar Minuten vorher stand ich noch hilf- und ratlos vor Chrysanthemen, Rosen und Ranunkeln. „Wie wäre es denn mit einer Amaryllis?“, wurde ich gefragt. „Tja, ich weiß nicht… Was schenkt man denn zum 100. Geburtstag?“
Als ich ankam, waren schon viele andere da. Vor dem Haus reihten sich die Autos. Es gibt Anlässe, da ist es in Wohltorf wie in Hamburg: Man findet keinen Parkplatz. Das hier war so ein Anlass.
Als ich mit meiner Blume das Haus betrat, empfing mich ein aufgehängter Zettel. „Zum 100. Geburtstag bitte in den zweiten Stock.“ Allein das Dasein dieses Wegweisers zeugte von der Bedeutung des Tages. Man erwartete wohl größere Mengen ortsunkundiger Besucher.
Ich kannte mich aus, nahm die Treppe und ließ auf dem Weg das Blumenpackpapier verschwinden. Nach ein paar Höhenmetern hörte ich auch schon das Stimmengewirr. Die Gratulierenden standen Schlange auf dem Flur. Gläser mit Sekt. Gläser mit O-Saft. „Ist das O-Saft pur? Ich muss nachher noch weiter.“ Ein kurzes Lachen dann die Antwort: „Och, ein Gläschen geht doch. Es ist doch was Besonderes heute.“ Ja, das ist es. In der Tat. Dann gab es Häppchen. Im Empfangsraum selbst war jeder Platz besetzt. Gespräche, Gläserklingen, Lachen. Jubeltrubel überall. Zur Feier des Tages schien sogar die Sonne. Ein bisschen.
Und mittendrin, in einem Ohrensesselthron, saß sie, geboren 1919. Man stelle sich das bitte vor. Einer nach der anderen gratulierte. Auch ich. Und ich wünschte Gottes Segen. Was für ein Tag. Wir sangen ein Geburtstagslied. Dann wurde eine Urkunde verlesen, unterschrieben von der Bischöfin. In der Urkunde stand auch eine Liedstrophe. Ich bin mir nicht mehr sicher, aber ich glaube, es war diese hier:
Lobe den Herren, der künstlich und fein dich bereitet,
der dir Gesundheit verliehen, dich freundlich geleitet.
In wieviel Not
hat nicht der gnädige Gott
über die Flügel gebreitet.
Natürlich haben wir die Strophe dann gesungen. Und als wir damit fertig waren, sagte sie, die in dem Ohrensessel saß, ein paar wenige Sätze. Sie erzählte von Dunkelheit. Und sie erzählte von Bewahrung.
Sie erzählte von Bomben, von vielen Stunden in dunklen Kellern, davon wie die Wände wackelten und wie sie dachten: Hier kommen wir nicht mehr raus. Und ich konnte spüren wie sich die Dunkelheit, an die sie sich erinnerte, auf unsere Gesichter legte und über die Geburtstagsblumensträuße und über den Sekt und über die Häppchen und über den Wegweiserzettel im Flur. Und es war ganz dunkelstill auf einmal.
In der Stille dachte ich: Ich weiß wahrscheinlich gar nicht, was Dunkelheit ist. Sicher, ich habe auch dunkle Ecken in meinem Leben. Diese Ecken, in denen auch immer ein bisschen Dunkles liegen bleibt, auch wenn der Rest des Lebens wieder lichter ist. Ich kenne dunkle Krankheit, auch richtig ernsthafte. Ich kenne dunkle Trauer. Und ich kenne auch Verzweiflungsdunkel. Aber diese Art von Dunkelheit, von der sie erzählt hat?! Andererseits lässt sich erlebte Dunkelheit wohl nicht vergleichen.
Aber dann riss sie mich aus meinen Gedanken. Sie sagte: „Und doch!“ Und ihre Stimme wurde fest. „Und doch!“ Und dann erzählte sie kurz von ihrer Familie und wie alle es doch irgendwie geschafft haben. „Und heute sind wir alle hier und feiern. Ist das nicht wunderbar?“ Und sie freute sich.
Wenn ich alt bin, dann will ich auch in einem Sessel sitzen. Und dann will ich mich auch so freuen können. Und dann möchte ich auch „Und doch!“, sagen können. Laut und deutlich. Und vielleicht will ich sogar feiern, mein Leben, in dem es immer beides gab: Dunkles und Helles. Und ich will dankbar sein können und mich erinnern an Lobe den Herren und vielleicht sogar an Jesaja, der auf seine Weise laut „Und doch!“ sagt:
Wer im Dunkel lebt und wem kein Licht leuchtet, der vertraue auf den Namen des Herrn und verlasse sich auf seinen Gott. (Jesaja 50,10)
Ihr Pastor
René Enzenauer