Liebe Wohltorfer,
liebe Krabbenkamper,
so oder so ähnlich beginnen die Gemeindebriefe.
Hier finden Sie die Gemeindebriefe 01/2023, 02/2023, 03/2023, 04/2023, 05/2023, 06/2023, 07/2023, 08/2023, 09/2023
Auch die alten Briefe können Sie noch einmal lesen. Ab Dezember 2003 bis Dezember 2016 in unserem alten Web-Auftritt und außerdem in der aktuellen Form die Gemeindebriefe 2017, 2018, 2019, 2020, 2021, 2022
September 2023
Liebe Wohltorfer, liebe Krabbenkamper,
Ein Geduldiger ist besser als ein Starker, und wer sich selbst beherrscht, besser als einer, der Städte gewinnt.
(Sprüche 16,32)
Ich weiß, das steht so in der Bibel, noch dazu im Buch der Sprüche, das mit seinen Sentenzen eine Anleitung für ein gelingendes und Gott wohlgefälliges Leben sein will. Aber wie so oft liegt zwischen dem, wovon man weiß, dass man es tun sollte und dem, was man tatsächlich tut, ein großer Unterschied.
Ein lichtdurchfluteter Sommertag in Paris. Wir hatten uns durch die Sträßchen der linken Seine-Seite treiben lassen, hatten eine Überlebensration Macarons gekauft und waren nun auf dem Weg in den Jardin du Luxembourg, wo ich unbedingt den Pétanque-Spielern zusehen wollte. Das jedenfalls sah mein geheimer Plan für den Rest des Tages vor: Im Schatten der Bäume des „Jardins“ sitzen, Macarons degustieren, einen Petit Café nach dem anderen trinken und den Pointeurs (das sind die Spieler im Team, die ihre Kugeln so dicht wie möglich an das „Schweinchen“ legen) oder den Tireurs (das sind die Spieler, die mit ihren Kugeln die gut liegenden gegnerischen Kugeln wegschießen) für ihr Können meinen Beifall bekunden.
Allerdings hatte es Gott gefallen, mich zu prüfen und dazu einen Crêpe-Verkaufsstand auf den Weg zum Pétanque zu stellen. Und so sagte einer von uns, der in diesem Urlaub noch keinen einzigen Crêpe gegessen hatte: „Weißt Du was? Ich hole mir einen!“. Er stellte sich in die kleine Schlange und ich stellte mich aus Solidarität dazu.
Eigentlich hätte es nicht lange dauern dürfen: Nur zwei, drei Leute waren vor uns an der Reihe. Und einen Crêpe zu basteln ist nun auch nicht besonders zeitintensiv: eine Kelle Teig auf die heiße Platte, den Teig mit der kleinen „Teig-Harke“ mit geübten Umdrehungen verteilen, kurz backen lassen, den Crêpe mit dem Palettenmesser wenden, wieder backen lassen, Nuss-Nougat-Créme darauf und mit einem anderen Palettenmesser verteilen, Crêpe zusammenfalten, auf den Teller: Bon Appétit!
Soweit die Theorie. Die Praxis war ganz anders. Vielleicht lag es ja daran, dass die Verkaufsperson zwischendurch immer mal wieder mit dem Handy spielte. Vielleicht lag es daran, dass sie keine großen Messer zum Verstreichen der Füllung benutzte, sondern kleine hölzerne Einwegmesserchen mit „Zähnen“, mit denen man natürlich den Teig kaputt macht, wenn man zu schnell ist. Vielleicht lag es auch daran, dass jemand vor uns Hotdogs bestellt hatte und dass ein Großteil von deren Zubereitungszeit darauf verwendet wurde, die Ketchup-Flasche zu schütteln, die aus irgendeinem Grund auf der Seite liegend aufbewahrt wurde. Vielleicht lag es auch daran, dass die Ketchup-Flasche nach Gebrauch wieder auf der Seite liegend zurückgeräumt wurde, statt sie effizient auf den Deckel zu stellen. Für jemanden wie mich, der als Student ein paar Jahre in einer Küche gearbeitet hat, war all das eine echte Anfechtung und so sagte ich: „Du schaffst das hier bestimmt auch ohne mich. Ich setze mich da drüben hin.“, tat es, atmete und schaute anderen Menschen beim Ponyreiten zu.
Ich weiß nicht, wie lange es am Ende gedauert hat, bis wir schließlich nebeneinander saßen und einer von uns seinen Wunsch-Crêpe aß, aber ich will nicht ausschließen, dass es eine halbe Stunde brauchte. Das Verblüffendste an der ganzen Situation aber war etwas anderes: Niemand, wirklich niemand in der Schlange der lange Wartenden schimpfte. Weder über die Ineffizienz noch über die Langsamkeit und auch nicht über die Gesamtsituation. Alle, ob Kinder oder Erwachsene, ertrugen stoisch gut gelaunt das Schauspiel des langsamsten Crêpe der Welt:
„Ob es am Urlaub liegt?“, fragte ich.
„Kann sein, vielleicht ist man im Urlaub geduldiger und nachsichtiger mit den Anderen.“
„Stell dir vor, das wäre immer so.“, sagte ich.
„Du meinst Urlaub?“
„Ja, das auch.“
Ihr Pastor
René Enzenauer
August 2023
Liebe Wohltorfer, liebe Krabbenkamper,
Wir haben über das Älterwerden geredet. Das ist nicht nur ein Thema für Menschen ab 80. Darüber kann man auch reden, wenn man Anfang oder Mitte 40 ist, aber nach dem Sprint zur gleich abfahrenden S-Bahn schnaufend darüber nachdenkt, ob man nicht doch wieder die seit langem passive Mitgliedschaft im Fitnessclub aktivieren sollte.
Diesmal allerdings war nicht das altersbedingte Zipperlein der Anlass unseres Gespräches, sondern eine Suchaktion. Für ein neues Projekt musste ich einige offizielle Dokumente zusammenstellen. Ich ging also in meiner sehr individuellen Ordnung auf die Suche und kam dabei auch an alten Zeugnissen und Urkunden vorbei:
Abitur 1998! Ich blickte auf das glänzende Wappen von Mecklenburg-Vorpommern, das mein Abi-Zeugnis ziert, und studierte die aufgelisteten Bewertungspunkte, die ich in Mathe, Deutsch und anderen schulischen Disziplinen gesammelt hatte. Erinnerungen tauchten auf. An meinen Mathelehrer, den Meister des Tafelbildes. An meine Deutschlehrerin, die mir nie eine Eins gegeben hat und deren Sprechstimme immer um die Tonhöhe Fis kreiste. Das hatte ich damals mit Hilfe einer Stimmgabel herausgefunden. Meine Güte, ist das alles lange her!
Ich fand meine Bescheinigungen über Lehrveranstaltungen von der Uni, die aus einer Zeit stammen, als man diese Dinge noch abheftete und sie nicht irgendwohin speicherte. Ich fand meine Berufungsurkunden, zum Vikar und zum Pastor. Ich fand meine Ordinationsurkunde. Und ich dachte: „Hach! Man sollte viel öfter seine Dokumente durchsehen.“
Denn das war kein wehmütig gedachtes Hach! Kein „Früher war alles besser-“ und auch kein „Die-guten-alten-Zeiten-Hach.“
Es war ein entspanntes Hach, von mir, einem Menschen, der wahrscheinlich in der Mitte seines Lebens steht und dabei denkt: „Das alles hast Du tatsächlich schon geschafft!“ Ein gutes Gefühl war das. Und es war das entspannte Hach eines Menschen, der bemerkt, wie schön es ist, dass sich die Bedeutung der Dinge mit zunehmendem Alter wandelt. Für die Schulnoten, die damals fast die Welt bedeuteten, interessiert sich nämlich heute niemand mehr. Ich finde, das ist sehr beruhigend. Dinge ändern sich eben, wenn man älter wird. Auch zum Guten. Und was einmal wichtig war, ist plötzlich nicht der Rede wert. Die Umkehrung aber ist genauso richtig. So stand ich auf dem Bergedorfer Altstadtfest und schaute einem Fahrbetrieb dabei zu, wie es Menschen durch die Luft kreisen ließ. Sie schrien dabei, ob aus Spaß oder gegen die Übelkeit, war für mich nicht zu erkennen. Ich dachte nur: Ich bin zu alt dafür.
Da hörte ich plötzlich mitten in dem Rummel meinen Namen. Ein junger Mann löste sich von einer Gruppe anderer jungen Menschen, die gerade fröhlich zusammensaßen, und kam auf mich zu. Er war ein ehemaliger Konfirmand. Das heißt nein, das stimmt nicht ganz. Er hatte damals den Konfikurs begonnen, aber dann abgebrochen. „Ich glaube, das ist nichts für mich.“, hatte er mir gesagt. „Mit dem Glauben kann ich nicht so viel anfangen.“ Wir hatten seinerzeit ein gutes Gespräch. Ich konnte ihn gut verstehen und fand seine Entscheidung sehr verantwortungsvoll. Damals hatten wir uns höflich voneinander verabschiedet. Nun stand er wieder vor mir. Zufällig und freudig. Er erzählte von seinem Abitur, davon dass er jetzt reisen will und dann arbeiten. Dann sagte er plötzlich: „Ich habe inzwischen oft daran gedacht, mich mal zu melden. Denn ich merke…“ Er machte eine kleine Pause. „Ich merke etwas fehlt mir. Damals war ich vielleicht zu jung.“
Dinge ändern sich eben mit dem Älterwerden. Ehemals Uninteressantes wird plötzlich interessant. Und umgekehrt. Wie beruhigend. Und wie schön, dass wir älter werden.
Die beim Haus des Herrn eingepflanzt sind, werden in den Höfen unseres Gottes wachsen. Noch im hohen Alter tragen sie Frucht. Voller Saft und Kraft werden sie sein. (Psalm 92)
Ihr Pastor
René Enzenauer
Juli 2023
Liebe Wohltorfer, liebe Krabbenkamper,
Der Sommer spannt die Segel und schmückt sich dem zu Lob, der Lilienfeld und Vögel zu Gleichnissen erhob. …
Es war eigentlich „nur ein freies Wochenende, aber es fühlte sich schon fast wie Urlaub an. Ich war in Travemünde, an dem Ort, von dem Thomas Mann geschrieben hat, es sei das „Ferienparadies, wo ich die unzweifelhaft glücklichsten Tage meines Lebens verbracht habe.“
So weit würde ich persönlich nicht gehen, aber schön war es trotzdem. Ich saß mit meinem Kaffee und einem Schokoladencroissant auf der Terrasse des Bäckerladens und es ging mir gut. Über mir schien die Sommersonne. Vor mir wiegten sich Boote und Jachten im Wind. Ein Schwan gründelte und ein paar Möwen hatten sich viel zu erzählen. Die Trave und die Ostsee plätscherten zusammen. Im Hotel neben mir aßen noch andere Leute friedlich ihr Frühstück. Von irgendwoher hörte man Kinder spielen. Es roch nach Wasser. Es war schön.
Dann kamen Lothar und seine Frau. Und mit ihnen kamen noch drei Hunde. Die Fünf suchten sich den Tisch neben mir aus. Es wurde also spannend. Sie hatten ebenfalls morgendlichen Hunger, brauchten Kaffee und Gebäck. Also passte Lothar auf die Hunde auf und seine Frau ging im Bäckerladen Frühstück holen.
Ich muss erklären, dass ich weder Lothar noch seine Frau kannte. Es war einfach eine dieser zufälligen Begegnungen, die einem nicht wieder aus dem Kopf gehen. Dabei haben wir uns noch nicht einmal unterhalten. Ich wurde unfreiwillig Zeuge, wie die beiden miteinander redeten. Ich beteuere an dieser Stelle: Ich konnte nichts dagegen tun. Meine Ohren ließen sich nicht abstellen. Daher weiß ich, dass er Lothar hieß. Und ich weiß, was die beiden bewegte. Und das gab mir zu denken.
Sie waren im Urlaub und genossen wie ich Travemünde und die Ostsee. Sie berlinerten etwas, kamen also genau genommen aus Süddeutschland. Ich verstand ihren Enthusiasmus für die Weite, die Möwen und das Meer. So weit war alles gut. Die Schwierigkeit bestand darin, dass sie demnächst Besuch bekommen würden. Ein befreundetes Paar würde „hochkommen“ um mit ihnen zusammen eine Zeit im Norden zu verbringen. Und das würde schwierig werden, denn anders als Lothar und seine Frau hatten die Freunde offenbar keine Freude an Strandspaziergängen, an entspannten Urlaubsschaufenster¬bummeln, an Ausflügen oder am Baden in der Ostsee. Lothars Frau fasste es so zusammen: „Sie wollen einfach nur sitzen und Kaffee trinken. Aber ich will doch was sehen!“ Worauf Lothar nur traurig sagen konnte: „Aber es ist doch unser Urlaub.“ Eine ganze Frühstückslänge lang kauten die beiden das Problem und suchten nach einem Ausweg, mal mit wütendem, mal mit enttäuschtem, mal mit resigniertem Beigeschmack. Am Ende war ihre Entscheidung: „Na dann werden wir eben auch einfach mit ihnen sitzen und Kaffee trinken. Was solls.“
Leider durfte ich nichts dazu sagen. Das alles ging mich ganz und gar nichts an. Aber ich hätte gerne etwas gesagt, nämlich dass es noch andere Möglichkeiten gibt, als bei etwas mitzumachen, was man eigentlich nicht will, nur um anderen vermeintlich einen Gefallen zu tun. Und vor allem hätte ich ihnen gerne gesagt, dass es nicht von anderen abhängig sein muss, ob ihr Urlaub so wird, wie sie ihn sich wünschen. Denn es ist doch alles da, was es braucht: Kaffee und Croissant, Sonne, Wind und Meer, Schwäne und Möwen, Weite und vor allem Zeit. Und mittendrin: wir, die wir in all dem sein dürfen. Daraus könnten die unzweifelhaft glücklichsten Tage eines Lebens werden. Es ist alles da.
… Der Botschaft hingegeben, stimmt fröhlich mit uns ein: Wie schön ist es, zu leben und Gottes Kind zu sein. (EG 639,5)
Einen schönen Sommer wünscht
Ihr Pastor
René Enzenauer
Juni 2023
Liebe Wohltorfer, liebe Krabbenkamper,
„Wollt ihr tanzen?“ Alle riefen wieder „Ja!“. Ich wollte auch, aber dieses Mal kam kein Ton raus. Nun wurde ich von den Ereignissen überrollt. Guy stellte sich an einen Tisch, auf dem ein verkabeltes Gerät stand. Er drückte auf einen Knopf, und die Lichter gingen aus, wurden aber von einer bunten Diskokugel an der Decke ersetzt. Auf einmal herrschte eine angespannte Atmosphäre. Wir wurden alle schöner.“ (aus: Victor Jestin, Der Tanzende, Kain & Aber 2023, 11.)
„Das da sind eure Sachen.“, sagte der Mitarbeiter. Wir waren schockiert und fragten, ob wir das wirklich alles bestellt hatten. Aber der Lieferschein ließ keinen Zweifel: Das waren unsere Sachen. Wir begannen mit komplizierten Berechnungen, wie dieser Berg aus Kisten, Kabeln und Stativen in unsere zwei kleinen Autos passen könnte. Aber Dank göttlichen Beistands und eines spontan aufgetriebenen zusätzlichen VW-Busses schafften wir es, die ganze Technik an den Ort ihrer Bestimmung zu bringen, nämlich in die Kirche.
Vier Tage lang veranstalteten wir dort einen Workshop. Wie kann man einen Gottesdienst mit elektronischer Musik feiern? Das war unsere Suchfrage und das wollten wir mit der „Versuch-und-Irrtum-Methode“ vor Ort ausprobieren. Also liehen wir uns Lichter in allen Farben, Formen und Größen, Stroboskope, Nebelmaschinen, Subwoofer und Hochtöner für den Klang, hunderte Meter Kabel und mehrere Pulte, um die ganze Elektronik steuern zu können.
Den ersten Tag verbrachten wir nur damit, das ganze Material herbeizuschaffen und aufzubauen. Dann kam das Eigentliche: Wir suchten die besten Stellen, von denen aus sich der ganze Raum beschallen ließ, so dass man das Gefühl hatte, im Klang zu baden. Dann kamen die Lichter an die Reihe. Als das erste Mal das Stroboskop durch die Kirche blitzte und die Sicherungen rausflogen, dachte ich: Wir sind auf einem guten Weg.
„Soll man eigentlich auch tanzen können?“ Einige aus dem Team waren skeptisch. Schließlich sollte es ja ein Gottesdienst-Konzept werden und kein Konzept für einen Besuch im Techno-Schuppen. Aber ich rief: „Ja!“. Wenigstens ausprobieren sollten wir es. Auch der biblische König David hatte damals vor der Bundeslade getanzt und war dabei sogar noch halb nackt, sodass sich die Leute echauffierten. Wir würden ja viel anständiger sein. Also schoben wir die Kirchenbänke aus dem Weg und schafften Platz.
Dann ging die Sonne draußen unter. In der Kirche wurde es dunkel. Genau das war unsere Zeit. Die von uns, die sich damit auskannten, stellten sich an den Tisch, auf dem die verkabelten Geräte standen. Sie drückten auf Knöpfe und schoben Regler. Die Musik spielte. Das eine Licht ging aus und anderes ging an und unsere Kirche wurde zu einem Ort zum einfach Sein. Es ist erstaunlich wie sehr sich alles durch Musik und Licht verändern kann. Nur noch treiben in Klang und Rhythmus, die kräftigen Bässe auf der Brust fühlen, wie ein Herzschlag, der von außen kommt, Nebel, und im Nebel ein Kreuz aus Licht, ein Meer aus Farben und aus Dunkelheit, zum Abtauchen, sodass alles gnadenvoll verschwinden kann, was unsichtbar werden soll, und in dem alles aufscheinen kann, was gesehen werden muss.
Es fühlte sich an wie die Verwandlung des Vertrauten und Alltäglichen in etwas… anderes:
Wir wurden alle schöner. Ich ahne, dass das gemeint sein könnte, wenn die Bibel schreibt:
Gott lasse leuchten das Angesicht über dir und sei dir gnädig. (Num 6,25)
Ihr Pastor
René Enzenauer
Mai 2023
Liebe Wohltorfer, liebe Krabbenkamper,
„Ich schreibe etwas über Glück.“
„Wir kommst Du denn darauf?“
„Weil ich noch nie etwas über Glück geschrieben habe. Außerdem hat mich jemand gefragt, ob wir es nicht alle verdient haben, glücklich zu sein.“
„Was hast Du geantwortet?“
„Dass‚ ‚verdienen’ vielleicht nicht das richtige Wort ist.“
Ich freute mich auf unseren Kurzurlaub in Berlin. Ich freute mich auf unser Hotel, in dem uns manche Angestellten fast schon vertraulich herzlich begrüßen. Ich freute mich auf das saubere, aufgeräumte Zimmer, auf die Bettwäsche die knackt, wenn man sie auseinanderfaltet und auf das ausgiebige Frühstück, das ich nicht selbst vorbereiten müsste. Ich werde faul sein dürfen und mich einfach an den Tisch setzen.
Berlin!
Ich wusste, dass ich wieder in meine Lieblingsbuchhandlung fahren würde, dass ich dort stundenlang stöbern und lesen und am Ende wieder fünf Bücher kaufen würde, die ich zu Hause auf den Stapel lege, wo sich die Bücher vom letzten Ausflug türmen.
Überhaupt, ich freute mich auf die große Stadt, mit allem, was an ihr anders ist als zu Hause, auf das andere Geräusch der S- und U-Bahnen, das sie machen, bevor die Türen zuknallen, freute mich auf so manch besondere Menschen, die ich sehen und bei denen ich mir denken würde: „Only in Berlin!“. Und dann war da natürlich noch das „Konzert“ mit den beiden französischen DJs in dem kleinen Club, die wir im letzten Sommerurlaub gehört hatten. Wir würden clubben gehen! Kurzum: Nach dem Stress der letzten Wochen würde es ein grandioses Wochenende werden. Wir hatten es uns verdient. Zweifellos!
Aber dann …
Als wir im Hotel ankamen, wartete dort eine ungewöhnlich lange Schlange aufgeregter Menschen an der Rezeption. Die Angestellten waren gestresst und genervt. Die Menschenschlange war gestresst und genervt. Und ich war es dann auch – auch deshalb, weil unser Zimmer noch nicht bezugsfertig war.
In meiner Lieblingsbuchhandlung war es ungewöhnlich voll. Ständig stand mir jemand im Weg, es war zu warm und sie hatten umgeräumt, sodass ich umherirrte wie ein verlorenes Schaf. Und dann, am Abend, kurz bevor wir tanzen gehen wollten, sagte einer von uns etwas, was man nicht hören möchte, wenn man sich auf einen schönen Abend freut. Er sagte: „Ich glaube, ich muss zum Arzt. Fahr Du schon mal Richtung Club. Ich komme nach. – Vielleicht!“ Und dann fuhr er Richtung Notdienst.
Es war nicht zu glauben! Ich war maximal unzufrieden, mit allem – mit Berlin, mit dem Universum, mit den anderen Menschen, mit der Gesamtsituation. Aber Berlin, das Universum, die anderen Menschen und die Gesamtsituation interessierten sich nicht für meine Unzufriedenheit. Das machte mich noch unzufriedener, so sehr, dass ich um ein Haar etwas nicht bemerkt hätte:
Abends, beim Schlafengehen, knackte die Bettwäsche. Das Frühstück dauerte bestimmt fast eine Stunde und ich durfte faul sein und mich einfach an den Tisch setzen. Die drei neuen Bücher passten nur mühsam in den Koffer und der Stapel zu Hause wuchs. In der U-Bahn sah ich einen, der hatte eine Blechdose auf dem Kopf. Kein Scherz! Und ich dachte: „Only in Berlin!“ Und dann, als wir abends zusammen die beiden DJs live erlebten, spielten sie „unser Lied“: Le temps est bon. Le ciel est bleu. Nous n’avons rien à faire, rien que d’être heureux. – Das Wetter ist gut, der Himmel blau. Wir haben nichts zu tun – außer glücklich zu sein. Und der ganze Club grölte mit. Wir auch.
„Und? Konntest Du was schreiben?
Über ‚verdienen’ und das Glück?“
„Ich bin mir nicht sicher. Vielleicht versuche ich es irgendwann noch mal.“
„Sagt die Bibel nichts dazu?“
„Doch, schon: Wer Klugheit erwirbt, liebt sein Leben. Und der Verständige findet Glück.
Sprüche 19,8.“
„Na passt doch.“
Ihr Pastor
René Enzenauer
April 2023
Liebe Wohltorfer, liebe Krabbenkamper,
Es gibt Fragen, die sind wie Geister. Sie tauchen hier und da und immer einmal wieder auf und materialisieren sich. Dann klärt man sie und denkt sich leicht und sinnig nach vollbrachtem Werk: Heureka, ich habs! Dann tun diese Fragen, was alle Fragen tun: Sie verschwinden mit der Antwort. Nur die Geister-Fragen, die verschwinden nie so richtig. Sie werden nur unsichtbar, bis sie an anderer Stelle wieder durch die Wand kommen.
Wie wird das Leben gut?
Das ist so eine Geister-Frage. Immer mal wieder taucht sie auf. Oft unbewusst im Hintergrund, wenn eine oder einer die Lebensweichen stellen möchte, sich dafür entscheidet zu studieren, statt eine Ausbildung zu machen, ein Haus auf dem Land zu bauen, statt eine Wohnung in der Stadt zu mieten oder Ofenbauer zu werden. Alles scheint geklärt. Und dann wird es doch das Freiwillige Soziale Jahr statt Uni, die Weltreise statt Hausbau und der Fachwirt für Kita- und Hortmanagement mit abgeschlossener Ofenbauerausbildung.
Wie wird das Leben gut?
Manchmal liegt diese Frage auch ganz direkt auf dem Tisch, so wie neulich im Konfirmandenunterricht, wo ich eine für mich erstaunliche Entdeckung machte.
Wir haben die Konfis nach dem gefragt, was sie für ein gutes Leben brauchen. In der Schatzkiste der Antworten fanden sich Perlen wie: eine Familie, Freundschaft, Acrylmarker, Nahrung, Gesundheit, meine Eltern, Golf und Liebe. Die nächste Frage war: „Würdet ihr sagen, dass man die wichtigsten Dinge im Leben selbst in der Hand hat, oder dass man sie „geschenkt“ bekommt?“
In der Mittwochsgruppe sagten die Konfis mehrheitlich: Das wichtigste im Leben habe ich selbst in der Hand, einschließlich Freundschaft, Liebe und Gesundheit. Denn dafür könne man selbst etwas tun. Die Donnerstagsgruppe sah das mehrheitlich anders: Das Wichtigste im Leben bekomme ich geschenkt. Mit Blick auf die Gesundheit sagte einer: „Vergesst es Leute, ihr könnt noch so gesund leben. Wenn es so sein soll, erwischt es euch doch.“
Später haben wir die gleichen Fragen im Konfivorstellungsgottesdienst den „Erwachsenen“ gestellt. Die meisten meinten: Die wichtigen Dinge im Leben habe ich selbst in der Hand.
Mich erstaunt das doppelt. Ich bin erstaunt, über dieses Ergebnis. Und ich bin erstaunt, dass ich so erstaunt darüber bin. Vielleicht liegt es ja an meiner Arbeit. Vielleicht kann ich mir angesichts der vielen offenen Warums, die ich in meinem Berufsalltag gehört, angesichts der quälenden Hilflosigkeiten, die ich gespürt habe und angesichts der vielen fremden Fragen zu einem als ungerecht empfundenen Leben nur schwer vorstellen, wie man meinen kann, man habe sein Leben selbst in der Hand. Ich erlebe und sehe es so grundlegend anders. Und auch der Konfi, der sein Statement zur Gesundheit abgegeben hat, er hat es anders erlebt – am eigenen Leib: „Vergesst es, Leute.“
Mich macht das doppelt nachdenklich: weil es etwas für unser Zusammenleben bedeuten muss, wenn so viele meinen, die wichtigen Dinge liegen in ihrer Hand und sind so gleichsam „verfügbar“. Dahinter verbergen sich in der Tiefe ja auch Erwartungen, an sich selbst, an andere und an die Umwelt. Was, wenn sie nicht erfüllt werden können oder nicht erfüllt werden wollen?
Und es macht mich nachdenklich mit Blick auf den Glauben: Wie sehr„nicht von dieser Welt“ wirkt da die Geschichte von Passion und Auferstehung, also von einem, der unverschuldet leidet, der sein Leiden oder Nicht-Leiden eben nicht in der Hand hat, schließlich stirbt und der – ohne eigenes Zutun – wieder ins Leben auferweckt wird?
Wahrscheinlich liegt die Wahrheit irgendwo dazwischen. Aber wenn ich mich entscheiden müsste wie die Konfis, dann bleibe ich im Team mit dem Namen: „Das Wichtige im Leben bekomme ich geschenkt.“: die Liebe, die Freundschaft, die Hoffnung, den Glauben, Sneaker und das Leben selbst.
Heureka, ich habs.
Frohe Ostern wünscht
Ihr Pastor
René Enzenauer
März 2023
Liebe Wohltorfer, liebe Krabbenkamper,
Und der auf dem Thron saß sprach: Siehe, ich mache alles neu. (Offenbarung 21,4)
Er sieht aus wie ein Rollkoffer, schwarz, mit einem Griff zum Hintersichherziehen, und wir nennen ihn liebevoll unseren „Ackerschnacker“. Gemeint ist unsere akkubetriebene Lautsprecheranlage mit kabellosem Mikrofon und eingebauter „Funkverbindung“. Mit ihr lassen sich unter anderem Handys koppeln, um zum Beispiel Musik abzuspielen. Gekauft haben wir den Ackerschnacker in Coronazeiten. Seitdem hat er uns gute Dienste geleistet, bei Konfirmandenfreizeiten oder in Gottesdiensten. Aber dann ging er kaputt. Der Akku weigerte sich, sich aufzuladen. Schade, dachte ich, wieder ist ein Ding dahin. Und dabei war er noch gar nicht so alt.
Ich erwähnte diesen Umstand bei einem Treffen mit unseren Jugendlichen, die die Anlage gerade noch auf der Konfi fahrt mit großer Freude benutzt hatten. Entsprechend teilten alle mein Bedauern. Nur einer sagte: „Ich glaube, ich weiß, woran es liegt. Und wenn ich recht habe, dann kann ich ihn wieder reparieren. Ich brauche nur einen Kreuzschraubenzieher.“
Das klang geheimnisvoll, und ich wusste weder, ob ich diesem Versprechen trauen sollte, noch, ob ich einem 15jährigen gestatten sollte, mit einem Schraubenzieher an einem teuren Gerät zu basteln, geschweige denn an einem Akku, „in dem Strom ist“. Glücklicherweise war gerade kein passendes Werkzeug zur Hand, weshalb mir eine Entscheidung erspart blieb. So gingen ein paar Tage ins Land. Aber der Jugendliche vergaß nicht. Bei der nächsten Gelegenheit fiel ihm das Thema wieder ein und er fragte nach einem Schraubenzieher. Wieder war ich unsicher und suchte nach einem Ausweg. Ich wollte ihn und seinen Enthusiasmus nicht enttäuschen. Ich wollte aber auch nicht, dass der Lautsprecher vollkommen kaputt geht. Und schon gar nicht wollte ich, dass sich der Jugendliche verletzt. Ich druckste also herum. Aber der Jugendliche sah mich plötzlich unverwandt an und fragte:
Traust Du mir zu, dass ich das kann?
Am 6. Februar bebte die Erde. Seitdem berichten die Nachrichten von den katastrophalen Folgen. Und ich nahm mir vor, darüber einen Text zu schreiben. Aber was soll ich schreiben? Was wäre sinnvoll, tröstlich oder in irgendeiner Weise hilfreich?
Ich könnte von den wissenschaftlichen Fakten schreiben, von der Nordanatolischen Verwerfung und davon, dass Wissenschaftler_innen ein Beben dieser Art schon lange erwartet haben. Es kann ja manchmal helfen und Halt geben, die Dinge nüchtern zu betrachten und zu erklären. Aber was trägt das aus, wenn man auf das entstandene Leid schaut, auf die zigtausenden von Toten und Verletzten, auf die 1,6 Millionen Menschen in Notunterkünften und die 600.000 Evakuierten, auf zerstörte Städte und Dörfer? Außerdem bin ich Theologe und kein Seismologe. Deswegen könnte ich vom deus absconditus schreiben, vom verborgenen Gott, der prinzipiell unerkennbar ist. Ich könnte von der rätselhaften Seite Gottes schreiben, die schon Hiob schmerzlich kennenlernen musste, von der Frage „Warum lässt Gott das zu?“, von Kontingenz und von der Frage nach dem Leiden. Ich könnte schreiben von meinen Gebeten und von meiner Hoffnung. Aber ich merke, dass es das nicht ist. Ich druckse also herum und suche, nach einem Ausweg, nach dürren Worten und nach dem, worum es mir eigentlich geht. Und so bleibe ich am Ende hängen, bei einem Bibelvers und bei einer Frage:
Gott wird abwischen alle Tränen von ihren Augen, und der Tod wird nicht mehr sein, noch Leid, noch Geschrei noch Schmerz wird mehr sein … Und der auf dem Thron saß sprach: Siehe, ich mache alles neu. (Offenbarung 21,4)
Traust Du mir zu, dass ich das kann?
Ihr Pastor
René Enzenauer
Spenden für die Hilfe in der Türkei und Syrien sind online unter der Adresse www.diakonie-katastrophenhilfe.de/spenden möglich.
Das Spendenkonto der Diakonie Katastrophenhilfe lautet:
Diakonie Katastrophenhilfe, Evangelische Bank
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BIC: GENODEF1EK1
Stichwort: Erdbebenhilfe Türkei Syrien
Februar 2023
Liebe Wohltorfer, liebe Krabbenkamper,
Sara aber sagte: Gott ließ mich lachen. (1. Mose 21,6) ist ein Bibelvers, der die Freude und Dankbarkeit von Sara ausdrückt, als sie erfährt, dass sie ein Kind bekommen wird, trotz ihres Alters. Es zeigt ihre Überzeugung, dass Gott die Quelle ihres Segens und Glück ist und dass es durch seine Macht und Gnade möglich ist. Dieser Vers ermutigt uns, unsere Freude und Dankbarkeit für die Gaben und Segnungen, die Gott uns schenkt auszudrücken und zu glauben, dass er uns das Unmögliche ermöglichen kann.
Vielleicht kommt Ihnen der Duktus der drei Sätze, die Sie gerade gelesen haben, eigenartig vor. Wenn Sie regelmäßig meine Texte lesen sollten, fragen Sie sich vielleicht sogar, ob es mir gut geht oder ob sich mit dem Jahreswechsel auch mein Schreibstil ungewöhnlicherweise verändert hat. Aber des Rätsels Lösung liegt woanders: Der erste Absatz ist nicht von mir. Er wurde aber auch nicht von irgendeinem anderen Menschen auf dieser Welt geschrieben. Er stammt von einer „Maschine“, von einer sogenannten Künstlichen Intelligenz, einer KI.
In meiner Laienhaftigkeit würde ich sagen, dass eine KI ein Computerprogramm ist, das gespeicherte Informationen durchsuchen, die gefundenen Informationen miteinander verknüpfen und daraus „Entscheidungen“ nachbilden kann, die normalerweise ein Mensch trifft. Und all das kann die Maschine fast allein. Der Mensch greift nur vereinzelt ein und korrigiert, wodurch die Maschine wiederum „lernt“.
Ganz neu ist diese Technologie nicht. In der Radiologie zum Beispiel helfen KI-Systeme den Ärzten beim Interpretieren der Bilder. Aber auch in der Sicherheitstechnik, bei der Spracherkennung oder in Suchmaschinen werden KI-Systeme angewandt. Und nun gibt es eine neue Möglichkeit für den Hausgebrauch: eine KI zum Texte schreiben und Ideen generieren.
Ich zum Beispiel habe der KI geschrieben:
„Schreibe einen Text im Umfang von drei Sätzen zum Bibelvers „Sara aber sagte: Gott ließ mich lachen.“
Dann klickte ich auf „Los!“ und ich konnte der Maschine beim Schreiben zusehen. Das Ergebnis ist der erste Absatz dieses Textes.
Faszinierend, oder? Oder eher beängstigend? Oder beides?
Im Freundeskreis haben wir darüber diskutiert. Einer war ganz hingerissen von den neuen Möglichkeiten. Wenn er von der KI redete, dann sagte er: „Ich habe IHN gefragt und ER hat dann geschrieben…“, so als rede er von einem Menschen. Ein anderer hielt dagegen und sagte: „Ich halte gar nichts davon. Ich möchte eine Maschine nicht mit meinen Gedanken füttern, die sie dann womöglich für etwas anderes benutzt. Was ist auch mit Emotionen, mit Gefühlen? Sollte man diese Technik nicht reglementieren, oder sogar nicht nutzen, obwohl man es könnte?“
In der Geschichte der Menschheit wäre letzteres wohl einmalig. Von der Eisenbahn, über die vollautomatische Waschmaschine bis zum Internet und zur Atomkraft: Wann immer es eine neue bahnbrechende Erfindung gab, wurde sie auch verwendet. Ein Dahinter-Zurück war nicht vorgesehen. Dabei gab es immer Befürworter, Skeptische, Kritiker und Gegner. Und immer auch gab es dabei eine wichtige Frage, nämlich: Was ist der Mensch?
Denn wenn eine Maschine „kreativ sein“ und meinen Gemeindebrief schreiben kann, wenn sie Konzepte erarbeiten und Texte bauen kann, was ist dann noch meine Aufgabe? Wenn Maschinen immer genauer, besser und selbstständiger Arbeiten ausführen können, die ehemals ein Mensch übernehmen musste, was bleibt dann vom Menschen? Was bleibt vom Menschen ohne seine „Arbeit“? Was macht den Menschen letztlich aus?
Wir werden darüber reden müssen. Ich habe spontan auch keine einfache Antwort, nur einen Gedanken. Der Philosoph Aristoteles hat geschrieben: Das Proprium des Menschen, also sein Eigenstes, was nur der Mensch kann und was ihn gegenüber allem anderen auszeichnet, ist: sein Lachen.
Hat er recht damit? Und ist das mit Saras Satz gemeint: „Gott ließ mich lachen.“? Auf diese Idee ist die KI jedenfalls nicht gekommen.
Ihr Pastor
René Enzenauer
Januar 2023
Liebe Wohltorfer, liebe Krabbenkamper,
Von guten Mächten, treu und still umgeben …
„Na dann machs mal gut.“, sagt er, „Und pass auf dich auf.“ Er klopft ihm auf die Schulter, schwingt sich auf sein klapperndes Fahrrad und fährt davon. Sein Bekannter bleibt zurück. Ich sehe ihm zu, wie er allein ein paar Sekunden ruhig dasteht. Es ist nur ein kleiner Moment, aber ein wichtiger. Nichts passiert in dieser kaum wahrnehmbaren Zeit. Kein Losgehen. Kein Hinterhersehen. Kein Blick auf die Uhr oder aufs Handy. Nur dastehen und atmen.
Es ist einer dieser Momente, in denen klar wird, dass sich gerade etwas verändert hat. Jemand, der eben noch da war, ist ab jetzt und bis auf Weiteres nicht mehr da. Etwas, das eben noch so war, ist ab jetzt und bis auf Weiteres anders. Die Zeit bis eben, heißt ab jetzt Vergangenheit. Wenn man an sie denkt, dann fühlt sie sich an wie eine alte Tante, die behaglich und gemütlich auf eine Tasse Tee vorbeischaut. Das, was nun folgt, ist Zukunft. Sie ist der wilde Teenager, mit dem Geruch von Draußen in der Jacke, der das unbequeme Ungewohnte in die Wohnung schleppt. Dazwischen ist Gegenwart. Dazwischen ist Abschied. Er hält alles zusammen – das, was bis eben noch war, und das, was kommt.
… behütet und getröstet wunderbar …
Wir Deutschen sind ziemlich gut im Abschied nehmen. Das habe ich irgendwo gelesen. Ein Ethnologe hat in Feldstudien herausgefunden, dass wir uns anders als so ziemlich jedes andere europäische Volk sehr lange mit der Verabschiedung aufhalten. Oft kommen erst beim Lebewohlsagen die eigentlich wichtigen Informationen zur Sprache. Wir umarmen uns unentwegt und sagen immer wieder „Tschüss, Auf Wiedersehen und alles Gute“ in erstaunlich vielen Variationen. Das kann das schon einmal zwanzig Minuten oder länger dauern. Bei der Begrüßung hingegen seien wir bemerkenswert sparsam mit Worten, Gesten und mit Gefühlen sowieso. Woran das liegt, wusste der Ethnologe nicht.
Wir zelebrieren den Abschied. Vielleicht sind wir deswegen so gut im Silvester feiern. Vielleicht reagieren viele deswegen so allergisch, wenn es um ein Verbot von Knallern, Böller und Raketen geht. Auch wenn unsere Hunde und Katzen panisch unterm Bett liegen und sich die Straßen unserer Städte und Dörfer erst mit dichtem Rauch und dann mit leeren Flaschen und Raketenabschussstöckchen füllen. Also machen wir unserem ethnologischen Ruf doch alle Ehre und sagen aufwendig: „Tschüss 2022! Alles Gute!“
Aber bevor du gehst, muss ich dir noch etwas sagen: Du warst in vielen Dingen schlimm. Am schlimmsten ist zweifellos, dass es wieder Krieg in Europa gibt, obwohl doch fast alle dachten, dass das inzwischen unmöglich sein sollte. Aber das war ein Irrtum. Städte werden zerbombt. Menschen fliehen. Viele suchen Schutz hier bei uns. Und sie fanden ihn: Viele öffneten ihre Häuser und Wohnungen, schafften Schlafplätze, halfen bei Behördengängen, sammelten Lebensmittel, Medikamente und anderes mehr. Das gab es auch im Jahr 2022. Und das war gut. Na dann: Tschüss!
Ach, aber die Energiekrise und die mutmaßlichen Reichsbürger-Umsturzpläne und all der Hass, der sich durch die sozialen Medien und dann auch durch das Soziale frisst, das hättest Du dir trotzdem schenken können, wenn ich das so sagen darf. Na gut, bisher kommen wir gut durch den Winter. Es gibt staatliche Hilfen und es gibt Menschen, die für die Demokratie kämpfen. Im Kleinen wie im Großen. Jetzt aber wirklich Tschüss.
Nur eins noch: Danke für einen langen Sommer. Für Urlaube und für freie Zeit, für alles Feiern und Lachen. Das war toll. Also machs gut und pass auf dich auf!
… so will ich diese Tage mit euch leben
und mit euch gehen in ein neues Jahr:
Von guten Mächten wunderbar geborgen.
Moin 2023! Mögest du ein gutes Jahr werden!
Ihr Pastor
René Enzenauer