Was zum Sonntag Palmarum

Liebe Gemeinde.

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Es ist Palmarum.

Und das ist ein außergewöhnlicher Sonntag.

In Lübeck zum Beispiel. Da gedenkt man heute der Zerstörung der Stadt. 1942 war das. Fast 400 Menschen starben. 15.000 wurden obdachlos. Seitdem hat jeder Gottesdienst an Palmarum in Lübeck immer auch einen trauernden Oberton.

Aber Palmarum hat auch eine andere, schöne Seite. In vielen Kirchengemeinden wird an Palmarum traditionell Konfirmation gefeiert. So dürften heute also wohl nicht wenige Leute zu Hause sitzen und denken: „Kinder, ist das schon wieder so lange her. Heute, vor 10, 20 … Jahren wurde ich konfirmiert.“

Wieder andere werden aber heute wahrscheinlich im Garten sitzen und sagen: Wenn dieses blöde Virus nicht wäre, dann hätten wir heute Konfirmation gefeiert. Das Wetter jedenfalls wäre perfekt gewesen, für Gartenparty und Grillen und für gute Stimmung. Aber aufgeschoben, ist nicht aufgehoben, auch wenn das nur ein kleiner Trost ist.

Und schließlich: Der Sonntag Palmarum markiert den Beginn der Karwoche. Auf Englisch heißt sie „holy week“, was nicht nur traurig klingt wie „Karwoche“ und was ich deswegen passender finde. Denn die kommende Woche ist tatsächlich ein Wechselbad der Gefühle zwischen himmelhochjauchzend und zu Tode betrübt.

Am Donnerstag ist Gründonnerstag. Jesus kommt mit seinen Jüngern ein letztes Mal zusammen, um zu essen und zu trinken. Eine letzte Stärkung sozusagen, bevor es richtig ernst wird und bevor er von Judas verraten wird. Dieser Tag hat schon etwas Schweres und Trauriges. Das gemeinsame Essen der Jünger schmeckt nach Abschied und nach Ende. In vielen Kirchen würde normalerweise am Donnerstagabend ein Abendmahlsgottesdienst gefeiert werden, bei dem auch Kerzen, Blumen und Decken vom Altar geräumt werden.

Denn einen Tag später ist Karfreitag. Jesus wird gekreuzigt. Karfreitag ist der Abgrund. Hier erreicht die „holy week“ ihren Tiefpunkt. Jesus ist tot. Die Jünger versuchen ihre Haut zu retten und zerstreuen sich. Das wars. Ende der Geschichte.

So dachten alle. Aber dann wird es nach einem Tag der Totenruhe Sonntag. Es wird Ostersonntag, Ostern. Das größte Freudenfest der Christenheit. Auferstehung. Halleluja und beinahe „Party ohne Ende“. Im Kirchenjahr dauert die österliche Freudenzeit bis einschließlich Pfingsten, also acht Sonntage lang.

Von heute an bis Ostern, innerhalb einer Woche also, Tod und Leben, Trauer und Freude, Verzweiflung und Hoffnung. Licht und Dunkelheit. Auch im Leben liegt das alles manchmal sehr nah beieinander.

Und los geht es mit Palmarum. Dabei geht es um folgende Geschichte, der der Sonntag seinen Namen verdankt:

In Jerusalem hat sich ziemlich viel Volk zusammengefunden. Die Leute sind zusammengekommen, weil das Passahfest ansteht, das groß gefeiert werden soll. Aber dann macht eine Nachricht die Runde: Jesus kommt nach Jerusalem. Die Leute drehen durch.

Alle laufen vor die Tore der Stadt, stellen sich an den Wegesrand und bereiten dem ankommenden Jesus einen riesigen Empfang. Sie wedeln mit Palmenblättern, ein Evangelium erzählt, dass die Leute ihre Mäntel auf die Straße legen, sodass Jesus darüber gehen kann. Die Menschen sind vollkommen aus dem Häuschen, die Männern applaudieren, die Frauen rasten aus und die Kinder eskalieren. Und alle rufen: Hosianna. Und Jesus setzt sich auf einen Esel, reitet in die Stadt und lässt sich feiern. Es ist wie der Einzug eines Königs.

So sollen wir uns das vorstellen.

Ob das alles genau so stimmt, ist aber fraglich. Jesus war ein Prediger unter vielen anderen. Da werden, wenn überhaupt, nur ein paar Hanseln an der Straße gestanden haben, vermute ich. Die zwölf Jünger waren noch dabei, die sich wahrscheinlich wie immer über irgendwas gestritten haben. Das wars dann aber auch schon.

Dennoch wird die Geschichte so pompös erzählt. Jesus wird wie ein König empfangen. Aber im Grunde erzählt sie weniger über ihn als über die Leute am Straßenrand.

Die Geschichte illustriert, was die Menschen erwartet haben: einen heldenhaften König, der sagt, wo es lang geht. Einen, der die Macht hat, ihre Hoffnung zu erfüllen und das umzusetzen, wonach sie sich sehnen. Einen der heilt und gesund macht, der Gerechtigkeit herstellt, der das Leben besser macht.

Aber so war es nicht. Und so war er, Jesus, nicht. Denn erstmal kam Karfreitag. Da haben sie ihre Palmwedel vor Enttäuschung in die Ecke geworfen und den Straßenstaub aus ihren Mänteln geklopft. Und Hosianna hat auch keiner mehr gerufen.

So ist das mit großen Erwartungen.

Aber ich finde, verdenken kann man es den Leuten nicht.

Der, der mir am Telefon erzählt, dass er sich in diesen Tagen Sorgen macht um seine Firma: Was gäbe er für einen Retter?

Die, die sich jetzt fragen, ob sie morgen noch ihre Arbeit haben: Was gäben sie für einen, der ihnen diese Hoffnung erfüllt?

Und sie, die mir erzählt, dass sie in diesen Tag noch weniger Kontakt zu anderen Menschen hat als sonst: Was gäbe sie für jemanden, der an ihrer Seite ist?

Sie alle würden an der Straße stehen. Mit ihren Erwartungen und mit ihren Hoffnungen. Ich auch.

Und was macht dieser Jesus. Er erfüllt uns unsere Wünsche nicht, jedenfalls nicht einfach so. Er macht es anders. Weil es im Leben nun einmal keinen Weg um das Leid herum gibt. Vielleicht kann man sagen, er reitet an uns vorbei. Er hört und sieht das, wonach wir uns sehnen und lädt es auf sich, legt es auf seine Schultern und reitet weiter. Stur wie ein Esel reitet er auf seinem Esel. Er reitet weiter, mit unseren Hoffnungen im Gepäck, vorbei an Gründonnerstag, hindurch durch Enttäuschungen und Verrat, durch tiefes Leid, durch Traurigkeit, durch Sorgen und Angst, hindurch durch Karfreitag, hindurch durch den Tod bis zum Ziel: Ostern, Auferstehung. Bis zum neuen Leben. Zu seinem. Und zu unserem. Damit Leid und Tod zum Trotz wahr wird, was er gesagt hat: „Ich lebe und ihr sollt auch leben.“

Ihr Pastor
René Enzenauer

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