Maria aber meint, es sei der Gärtner …
I. Verstecken
Eins, zwei, drei, vier Eckstein,
alles muss versteckt sein.
Hinter mir,
vor(der) mir
und an den Seiten gibt es nicht.
Ein, zwei, drei:
Ich komme!
Ihr kennt das,
denn so ging das.
Früher,
wenn wir Verstecken spielten.
Im Wald,
in den Büschen an der alten Stadtmauer.
Oder eben:
Im Garten.
Jemand musste zählen.
Bis 20.
Bis 30.
Bis 100.
Bis Ewigkeit also.
Und dann:
Eins, zwei, drei:
Ich komme.
Es gab welche,
die waren richtig gut im Suchen.
Die hatten gute Augen und suchten mit System.
Und es gab welche,
die waren super im Verstecken.
Manche zu gut.
Die fand man nie.
Die hockten,
vom Laufen außer Atem,
tief im Dschungel,
eingegraben unter Laub,
oder meterhoch im Baum.
Wer guckt denn schon nach oben?
Oder sie kauerten unter der alten Schubkarre,
die kopfüber an der Gartenhauswand lag.
Das ging dann so lange,
bis die Glocke der Kirchturmuhr sechsmal schlug
und alle nach Hause mussten.
Oder bis die Bratwurst auf dem Gartengrill fertig war
und man nach dem Abendbrot rief.
Oder
bis das lustige Spiel traurig wurde,
weil der,
der suchte,
nicht mehr weiterwusste
oder hilflos war,
wie es nun weitergehen könnte,
und was jetzt zu tun wäre.
Zu gut die Verstecke.
Zu verborgen die, nach denen man suchte.
Zu verborgen die, die fehlten.
Doch es gab einen Ausweg:
„Vogelfrei“.
So hieß das,
wenn die, die die Runde überstanden hatten,
wenn die Überlebenden,
aus ihren Verstecken kamen.
Vogelfrei.
Und dann gab es entweder eine neue Runde.
Oder es ging „ab nach Hause“,
„ab ins warme Nest.“
Und auf dem Weg dann fragte man:
„Wo warst du?“
Und die Antwort war vielleicht:
„Hier, bei dir.
Näher als du denkst.“
Maria aber meint, es sei der Gärtner …
II. Paradiesgarten
Alles ging los mit einem Garten.
Frisch gepflanzt.
Für den Menschen.
Nach Osten hin.
Wenn der Wind darüber ging,
dann roch es nach Anfang.
Es gab noch keine Fußspuren in der Erde.
Und keine Schnecken an den Pflanzen.
Der Ur-Ur,
20 Mal-Ur,
30 Mal-Ur,
100 Mal-Ur,
bis Ewigkeit-Ur-Garten war noch unbegangen.
Unverdorben.
Alles chic.
Da spielten sie auch Verstecken im Garten.
Zwischen Hochgewachsenem und Tiefgründigem.
Da sind die beiden ersten Versteckspieler
und spielen Verstecken mit Gott.
Wahrscheinlich waren auch sie außer Atem.
Eins, zwei, drei:
Ich komme.
Und Gott rief:
„Mensch, wo bist du?“
Als jetzt der Wind noch einmal wehte,
lag Angst mit in der Luft.
Denn es war passiert,
was nicht hätte sein sollen.
Ein Riss.
Ein Biss in die verbotene Frucht.
Ein Fallen.
Ein Schöpfer, der nach seinen Kindern ruft,
die sich vor ihm verstecken.
Seitdem ist diese Art Verstecken kein Spiel mehr.
Der Acker,
dein Garten:
Du muss dich abmühen, um dich von ihm zu ernähren
… bis du zum Erdboden zurückkehrst.
Denn aus ihm bist du gemacht:
Staub bis du und zum Staub kehrst du zurück.
Keine Vogelfreiheit mehr.
Und auch kein „Ab nach Hause“,
kein „Ab ins warme Nest“.
Sondern raus ins harte Leben.
Aus dem ersten Garten in die Endlichkeit der Welt.
Dem Ende entgegen.
Vor dem stand auch Maria.
Draußen vor dem Grab und weinte.
III. Gräber
Seitdem stehen wir vor Gräbern.
Mit Blumen in den Händen.
Und mit Fragen im Herzen.
Und manchmal mit Wut.
Im ersten Garten versteckte sich der Mensch.
Im letzten Garten versteckte sich Gott.
So fühlt es sich wohl an.
So verlassen.
Und traurig.
Und leer.
So geht die Maria an dem Morgen in den Garten,
der zum Friedhof geworden ist.
Und sie sucht nach dem,
den sie verloren hat.
Und um den, sie trauert.
Aber sie findet ihn nicht.
So weint sie.
Die Welt verschwimmt in Wasserfarben.
Selbst die Engel, die da hocken,
oben einer, unten einer,
die nimmt sie gar nicht wahr,
als wären sie versteckt,
so wie der Wald vor lauter Bäumen.
Sie wundert sich noch nicht einmal.
Wenn du wirklich weinen musst,
dann nützen dir auch Engel nichts.
Vielleicht kennst du das ja auch.
Dann fragt einer:
„Frau, was weinst du?“
Man stelle sich vor:
Da stehst du auf dem Friedhof und weinst,
und jemand fragt dich das:
„Was weinst du?“
Als wäre der Friedhof nicht der einzige Fleck Erde,
auf dem Weinen einmal keine Erklärung braucht.
Aber vielleicht ist die Frage doch nicht so schlecht:
Was für Tränen weinst du?
Was meinst du, wenn du weinst, Maria Magdalena?
Weinst du Tränen um ihn,
den du verloren hast?
Weinst du Tränen um dich?
Tränen Um euch?
Tränen um den Moment?
Um die Zeit?
Weinst du Tränen um das Gestern,
das war,
um das Heute,
das ist, wie es leider ist,
oder um das Morgen,
das hätte sein können?
Um das, was du so gerne tun wolltest und nie getan hast.
Um das, was du hättest sagen wollen und nie gesagt hast.
Was du immer noch zu Ende bringen wolltest und was jetzt zu Ende ist.
Um das, was du vermissen wirst und was nie mehr wiederkommt.
Um das, was nun verloren ist,
und was du nicht mehr wiederfindest.
Ich kenne alle diese Tränen.
Und du ja vielleicht auch.
Sie verschwimmen.
Und das, was sie bedeuten auch.
Und so irrt man dann durchs Leben,
Wasserfarbentränenblind
hilflos auch
und sucht
nach Halt und Sinn,
und danach, wie es weitergehen kann.
Und auch nach Gott.
„Vogelfrei“
möchte man dann rufen.
Und die nach denen man suchte, wären wieder da.
Und man könnte fragen:
„Wo warst du?“,
mit dieser seltsamen Mischung aus Staunen, Traurigkeit und Freude.
Aber dann wäre alles wieder gut.
Alles auf Anfang,
neue Runde:
Frei wie ein Vogel.
Aber leider ist das nicht so einfach.
Alles bleibt versteckt.
Auch Gott.
Maria aber meint, es sei der Gärtner …
IV. beim Namen nennen
Bis er ihren Namen nennt.
Spricht Jesus zu ihr: Maria!
Da wandte sie sich um und spricht zu ihm auf Hebräisch:
Rabbuni.
Das heißt: Meister!
Das ist wie das Glück beim Suchen,
aus dem endlich ein Finden wird.
Das ist Tränentrocken,
sehen und erkennen.
Das ist Ostern.
Der Morgen nach dem langen traurigen Versteckspiel.
Wie wenn eine oder einer deinen Namen nennt.
Und dich kennt,
und um dich weiß und dich versteht.
Wenn Gott den Stein vom Grab wegwälzt.
Und die Engel rufen:
„Vogelfrei“.
Und du dann fragst:
„Wo warst du?“,
mit dieser seltsamen Mischung aus Staunen, Traurigkeit und Freude.
Und Gott antwortet:
„Ich bin hier,
bei dir.
Ich plante nur den neuen Morgen.
Unseren neuen Anfang
mit mir und dir,
mit mir und mit der Welt.“
Und dann geht es in das neue Leben,
frei wie ein Vogel, vogelfrei,
eine neue Runde,
beziehungsweise
aus der Trauer
„ab nach Hause“,
„in das wohlig warme Nest“.
Amen.
Copyright: René Enzenauer