Predigt 25.08.2024 - Reeperbahn

Gnade sei mit Euch und Friede von dem, der da ist und der da war und der da kommt. Amen.

 

I. Meinungen

Reeperbahn.

Die Meinungen gehen auseinander:

 

Mehr als nur ein Rotlichtviertel!

Diskotheken und Nachtclubs reihen sich aneinander.

Die bekannteste Ausgehstraße der Stadt …

… der erste Anlaufpunkt für viele Nachtschwärmer

Und viel Sehenswertes.

 

Etwas weiter unten steht dann:

 

Für den Hamburger gibt es nur einen Kiez:

das Vergnügungsviertel im Stadtteil St. Pauli

rund um die sündigste Meile der Welt.

… aus

der Reeperbahn,

der Großen Freiheit,

dem Hamburger Berg und dem Hans Albers Platz.

Je später der Abend,

desto voller die Straßen

und ausgelassener die Menschen.

 

Das schreibt

die Stadt Hamburg

unter

www.hamburg.de
Slash tourismus
Slash sehenswuerdigkeiten.

 

Seltsam technisch-hölzern klingt das alles,

jedenfalls für den, ders kennt.

So als würde man versuchen,

das Verruchte und Dreckige in Seide zu wickeln.

Schleifchen drum und fertig ist die Sehenswürdigkeit.

Aber die altbekannten Schlagworte sind dabei.

Rotlichtviertel!

Nachtclubs!

Vergnügungsviertel!

Nachtschwärmer!

Die sündigste Meile der Welt!

Wer hätte das nicht schon gehört.

 

Die Reeperbahn,

als etwas,

was sich Hamburg ins Schaufenster legt.

Damit Leute kommen und gucken.

Und staunen.

So wie man

in Paris über den Eiffelturm staunt,

oder in Rom über den Petersdom.

 

Andere aber sehen etwas anderes.

Ein Künstler und Fotograf schreibt wenig blumig:

 

Ein renitenter Zwergenstaat der Ausgestoßenen,

eine kleine Heimat der Malocher,

der Huren und Galgenvögel,

die es nie zu einer noblen Etagenwohnung an der Alster bringen werden.

Es ist dort immer noch dreckig

und zwingt einen,

all das zu sehen,

was die meisten Menschen nicht gern vor der eigenen Haustür haben möchten:
Besoffene in ihrer Kotze,

Spinner,

Müll

und Architektur,

die alles dem Zweck,

aber wenig dem Wohlbefinden unterordnet.

 

Hier war schon immer erlaubt,

was anderswo nicht mal denkbar war –

Bumsshows und Prostitution,

verschrobene Lebensentwürfe

und ein Auskommen durch Berufe,

die es woanders gar nicht gibt:

Koberer und Schauficker,

Wirtschafterinnen,

Stiefelfrauen und Ritzenkellner.

Es gibt die,

die hier leben und die diejenigen täglich ertragen,

die nur mal zum Gucken und zum Saufen vorbeikommen.

Der tägliche Irrsinn direkt vor der Nase

macht einen in einer Weise gelassen,

die man nicht mal in einem buddhistischen Kloster lernen kann.

Da muss man zusammenhalten.

 

Irrsinn also.

So gewaltig,

dass man es nur zusammen aushalten kann.

Leben, das ertragen werden muss.

 

Wahrscheinlich flüstern viele, die dort schlendern,

was der Pharisäer über den Zöllner flüstert.

 

„Ich danke dir,

dass ich nicht so bin

wie der da.“

 

Glück gehabt.

Sagen die einen

und kommen, um zu gucken wie die anderen leben.

 

Mein Gott wie spießig.

Sagen die anderen.

Oder sie sagen gar nichts,

weil es sie nicht interessiert.

Sie leben und lassen leben,

leben in echt,

was die anderen sich begucken, als wären sie in einer Galerie.

 

Und nun?

 

2. Keese

Wie wärs mit einem Spaziergang zum Nachdenken.

Keine Sorge, wird nicht lang.

Aber tief, vielleicht.

 

Die Reeperbahn hat zwei Enden.

An beiden hält die U-Bahn.

Aber es ist nicht egal,

an welchem Ende du aussteigst und losläufst.

 

Läufst Du Richtung Altona,

dann fängst du auf dem gediegeneren Ende am Millerntor an.

Von da läufst du dann in dein Verderben.

Lass also alle Hoffnung fahren.

 

Aber zunächst ist noch alles recht großstadt-chic

und halbwegs sauber da am Anfang.

Wo die beiden zwei Bürotürme miteinander tanzen.

Wo es Restaurants gibt,

bei deren Preisniveau Google die drei Dollarzeichen zeigt.

Eine Drogerie aus dem hamburgischen Ausland gibt es dort,

nicht Budni.

Man stelle sich das vor.

Einen Bauprojektentwickler gibt es dort und ein Büro der Knappschaft,

KFZ-Gutachter.

Bürgerliches Leben gibt es dort.

 

Aber dann geht’s abwärts.

 

Du kommst am Café Keese vorbei.

Beziehungsweise an dem, was davon übrig ist.

Honi soit qui mal y pense.

Steht dran.

Im Dunkeln leuchtet es sogar.

Beschämt sei, wer Böses dabei denkt.

 

Hier öffnete früher ein Portier die Tür.

„runde 1,90 groß und mit gesundem Kreuz“

wie das Abendblatt mal schrieb.

Mit brokatbesetzter Uniform wählte er die Gäste aus.

 

Drinnen saßen fein ondulierte Damen

im knielangen Kostüm.

Die Sessel waren rot und plüschig.

Man trank ein Sektchen oder zwei,

rauchte mit der Zigarettenspitze

und tat so

als würde man sich mit der Freundin unterhalten.

 

Dabei checkte man das Männerangebot.

Auf dem anderen Ende des Lokals saß ein feiner Herr.

Gut sah er aus,

mit gepflegten Schnurrbart und mit seinem edlen Etui.

 

Die Dame griff zum Telefon,

von dem jeder Tisch eins hatte.

Sie wählte die Tischnummer und fragte:
„Darf ich bitten.“

 

Der Herr stand auf,

sortierte sich und seine Kleidung.

Und führte die Dame aufs Parkett.

 

Die Freundin hätte ihm zwar besser gefallen,

aber ablehnen durfte er die Aufforderung nicht.

Das stand in dem rosafarbenen Benimmbüchlein,

das neben jedem Tischtelefon lag.

 

Ball Paradox hieß die Veranstaltung.

Wie passend.

Man stelle sich das vor:
Die Damen wählen sich die Herren aus.

Und die müssen ihnen zu Willen sein.

Was für verrückte Sachen die da machen.

Auf der Reeperbahn.

 

50.000 Ehen sollen so geschlossen worden sein.

Besonders in den Jahren nach dem Krieg.

Eine Single-Börse für Kriegswitwen.

Ein Ort für einsame

und verwundete Herzen.

Damals plüschig rot.

Heute längst nicht mehr.

Aber ich glaube,

die einsamen und verwundeten Herzen,

die gibt es immer noch.

Nur anders.

 

Gut, dass ich nicht so bin

wie die.

Gut, dass ich das nicht nötig habe.

Flüsterte mancher.

Andere sagen:

Sinn

und Sinnlichkeit.

Und zwinkern einem zu.

Auf der Reeperbahn …

 

3. Bizarre

Wir ziehen weiter.

Laufen über einen Stern,

auf dem der Name Udo Lindenberg strahlt.

Das Café Keese war früher sein „zweites Wohnzimmer“.

Sagt er.

 

Wir kommen an der Boutique Bizarre vorbei.

Der einzige Sexshop,

der auch an Sonn- und Feiertagen geöffnet hat.

Man kann dann dort zwar nichts kaufen,

aber durch den Laden laufen

und kann gucken,

was was ist.

 

So schlendern sie alle durch den Laden:

die Verhuschten und Verklemmten,

die mit einem schnellen Sprung zur Seite von der Straße in den Laden hechten.

Die Heteros, die Gays,

die Paare, die mit Fingern auf die Dinger zeigen

und dann kichern wie die Kinder.

Die Wangen rot.

Die Augen groß.

Nein, kaufen würden sie hier nichts.

Kicher, kicher.

Der Kassierer verdreht die Augen.

 

Es gibt die Routinierten,

die sich besorgen, was sie brauchen, so als würden sie zum Kiosk an der Ecke gehen.

Es gibt die Esoterischen,

die in jedem Sexspielzeug ein Mittel zum Erreichen höherer Sphären sehen.
Es gibt die grölenden Männerrudel,

die noch ein Geschenk für den Junggesellenabschied suchen.

Und es gibt die Normalos:

„Einmal Massageöl, bitte.“

Und dann gehen sie mit einer unauffälligen schwarzen Plastiktüte davon.

 

Und die Touris staunen.

„Na, das brauchmer fei nett.“

Gut, dass ich das nicht nötig habe.

Gut, dass ich nicht so bin wie die.

Mit schrägen Bedürfnissen

und seltsamen Begierden.

Andere sagen:

Sinn und Sinnlichkeit.

Und zwinkern einem zu.

Auf der Reeperbahn …

 

4. Davidwache

Wir ziehen weiter,

aber unser Ohr bleibt hängen.

„Guck mal da,

das ist doch dieses Polizeirevier.

Das kommt immer im Fernsehen.“

Flötet die Mutter.

 

Und die Tochter sagt verständnislos:

„Habe ich noch nie gesehen.“

 

Davidwache.

Da, wo

… der Schutzmann ums Eck kommt,

und der Ede dann reiß aus nimmt.

0,92 Quadratkilometer Fläche.

Aber ca. 14.000 Einwohner.

Und man möchte sagen:

was für welche.

 

Aber es sind ja nicht immer nur die großen Haie,

manchmal sinds auch nur die kleinen Fische.

Letztlich fischt doch jeder gerne mal im Trüben,

behauptet das Lied.

 

Tatsächlich:

viel Schatten, viel Licht.

Hier im Großstadtrevier.

Große Sünden,

kleine Schwächen,

das wahre Gesicht,

zeigt sich hier.

 

Aber nein sagen wir empört,

wir doch nicht.

Gut, dass ich nicht so bin wie die …

 

… Junggesellenabschiedspartypeople,

die extra aus England angeflogen sind

um auf der Reeperbahn abzustürzen.

Und nun laufen sie von einer Bar zur Anderen,

trinken das Bier in laufenden Metern,

damit sie hinterher zu Recht zu Hause behaupten können,

sie hätten vergessen,

was in Hamburg passiert ist.

Als Erinnerung bleibt nur das Geschenk aus dem Sexshop.

 

Gut, dass wir ein anderes Leben haben,

nicht wie die Seeleute,

die unten im Hafen vor Anker gehen

um dann ihre Heuer im Rotlicht auf einem klebrigen Nachtschrank liegen zu lassen.

 

Gut, dass wir nicht so sind

wie all die Luden und Koberer

und Türsteher und Nachtgestalten,

sagen die einen.

 

Und die anderen sagen:
Sinn und Sinnlichkeit.

Auf der Reeperbahn.

Und zwinkern.

 

5. Der Penny

Es wird Zeit für einen Snack.

 

Ende Reeperbahn.

Pennymarkt.

Hier vermischen sich wieder auf seltsame Weise,

das Notwendige mit dem Schrägen.

 

Das Licht ist seltsam schummrig.

Aber dafür lagert alles unter mehrdeutigen Leuchtbuchstaben:

Das Gemüse liegt unter

„Knackige Dinger“ und „Ab in die Gemüsekiste“

und die Süßigkeiten unter

„Kleine Sünden“.

Auf dem Kühlschrank mit dem Grillsteaks steht groß „Frischfleisch“

und die Wurst lagert unter „Geiler Aufschnitt“.

So vermarktet man den Mythos.

 

Es gibt Dokumentationen über diesen Penny,

in dem sie alle einkaufen.

Die Touris,

wie die Einheimischen,

die Studenten, Mütter,

die, die bei KFC an der Ecke auf der Straße liegen,

und die Punks,

die mit einer Dose in der Hand um eine Spende klappern.

 

An der Kasse sitzt einer.

An jedem Finger ein Ring,

der Bart lang und zu Zöpfen geflochten,

in der Nase ein Nasenring,

so groß wie ein Bagel

oder so.

In Wohltorf würde er sehr auffallen.

 

Ich bezahle und beneide ihn.

Hier darf man das.

Und keiner fragt danach.

So stelle ich es mir jedenfalls vor.

Wahrscheinlich hat man ihn sogar extra deswegen für diesen Penny ausgesucht.

Wie schade,

dass ich nicht auch so frei sein kann wie er.

Denke ich vielleicht.

Was würden wohl die Leute sagen?

 

6. Spiegel

Wir snacken unseren Snack auf dem Beatles Platz.

1960 begann ihre Karriere in Hamburg. Man stelle sich das vor.

 

Reeperbahn also.

Und nun?

 

Und ich sage:
Sie hat etwas, von einem Spiegel.

Wer will kann sich darin sehen.

Und zwar von allen Seiten gleichzeitig.

Und ich meine wirklich,

von allen Seiten.

Auch von den wilden, schrägen und bizarren,

von denen, auf die man nicht so gerne guckt

und schon gar nicht gucken lässt.

 

Tanzende Bürotürme und teure Rooftopbars.

KFZ-Stelle und Rentenversicherung.

Bürgerlichkeit.

Geld verdienen.

Organisiertes Leben.

 

Und dann, die ganzen anderen Seiten:

das einsame Herz auf der Suche,

nach Liebe oder nach Berührung und Körperlichkeit.

Lust und Leidenschaft kannst du sehen und Kichern wie die Kinder.

Verschrecktes, Schüchternes und Schräges.

Dreckiges, Trübes, Verbotenes,

Exzess und Absturz,

Gott sei Dank, ich bin nicht so.

 

Aber dann weht vom Hafen ein Wind hinauf in die Stadt.

Es riecht nach großer Freiheit,

nach man selbst Sein,

nach: Egal!

Ach wäre ich doch auch wie sie.

 

Wenn du willst,

kannst du alle diese Seiten von dir auch angucken,

wenn du durch diese wilde Straße gehst.

930 Meter.
Menschsein.

Prall.

Und echt.

Mit Höhen und Abgründen.

 

Vielleicht ist das das Faszinierende an ihr.

dass man hier alle Seiten eines Menschen sehen kann,

manifest in Bars und Clubs und Shops, im Polizeirevier

und auch im Dreck.

Sie zeigt den Menschen wie er ist,

mit seiner bürgerlichen und mit seiner spannenden Seite.

selbst, dass man zusammenhalten muss,

um den Irrsinn dieses Lebens zu ertragen.

 

Natürlich ist das alles ein gewachsener Mythos.

Aber das ist in Ordnung.

Denn jeder Mythos erzählt etwas

von dem, was den Menschen unbedingt angeht,

was ihn in seinem Herzen und in seiner Existenz berührt.

Wenn er es zulässt.

Und ehrlich ist,

mit anderen

und vor allem mit sich selbst …

 

Sage ich.

Und zwinker.

 

Amen.